© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Für die Vitrine, nicht zum Anziehen
Turnschuhsammler verdeutlichen die Wohlstandsverwahrlosung der westlichen Welt
Boris T. Kaiser

Unter der „Bedeutungsübersicht“ zum Wort „Dekadenz“ findet man auf duden.de folgende Beschreibung: „kultureller Niedergang mit typischen Entartungserscheinungen in den Lebensgewohnheiten und Lebensansprüchen; Verfall, Entartung“.

Ob diese Definition in ihrer ganzen Härte auf exzessive Turnschuhsammler zutrifft, muß am Ende jeder selbst entscheiden. Sogenannte „Sneakerheadz“ würden den vom Duden beschriebenen gesellschaftlichen Niedergang zumindest mit ausreichend Schuhwerk bestreiten. Wobei sie diese nicht Turnschuhe nennen. Vermutlich weil sie diese nur noch in den seltensten Fällen zum Zwecke sportlicher Betätigung tragen. Mehrere hunderte Paare sind keine Seltenheit. Treter, die früher vom Bolzplatz verdreckt vor der Tür stehen bleiben mußten, haben sich zur in Kartons staubgeschützt gehorteten Geldanlage entwickelt. 

Herstellungsbedingungen werden kaum hinterfragt

Kollaborationen von klassischen Turnschuhmarken wie Nike mit Basketballidol Michael Jordan oder Adidas mit den Hip-Hop-Urgesteinen von  Run DMC machten aus Sportschuhen Statussymbole. Neuerdings befeuern Zusammenarbeiten mit Luxusmarken von Gucci bis Louis Vuitton die Preise. Marketingtechnisch geschickt verknappte Sondereditionen erzielen bei Online-Auktionen Preise von mehreren tausend Euro. Auf „Sneaker-Börsen“ wie StockX werden die Preisentwicklungen wie bei Wertpapieren in Kurvendiagrammen angezeigt. Um eine Marke zur Trendmarke in einer bestimmten Szene zu machen genügt mitunter ein Online-Beitrag eines „Influencer“. Solche Beeinflusser können Prominente, beispielsweise aus der Musikbranche, sein, aber auch eigentliche Nobodys, deren ganze „Relevanz“ allein auf ihrer Onlinepräsenz auf Instagram und Co. fußt. Nicht zuletzt diese Influncer tragen auch zu den langen Schlangen vor speziellen „Sneaker-Shops“ bei, die in Großstädten wie Berlin, New York oder Tokio mittlerweile wie Fußpilz aus der Sohle sprießen. Vor dem gepriesenen Verkaufsstart mancher limitierter Modelle kampieren einige Anhänger nächtelang. An die wirklich seltenen Paare kommen aber nur wenige Szene-Geschäfte, weshalb sich neben den Sammlern auch die Händler ein Wettrennen liefern.

Wenn ein Influncer wirklich Einfluß hat, kann er sich diesen deshalb auch vergolden lassen, indem er sich bei seinen „Kaufentscheidungen“ von der Industrie ein bißchen unter die Arme greifen läßt. Gesponserte Inhalte können durchaus mitentscheidend sein, wenn es darum geht, ob ein neues Schuhmodell ein Erfolg oder ein Flop wird. 

Wer ein gut bezahlter Fußsoldat der Turnschuh-Industrie sein will, sollte Fragen nach dem Sinn von überteuerten Sportschuhen, die in vielen Fällen kein einziges Mal getragen, sondern in Vitrinen und Extraräumen gelagert werden, natürlich genauso unterlassen wie kritische Bemerkungen zu den Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern.

Die Profi-Sammler transportieren ein Lebensgefühl, dem der Online-Streamingdienst Netflix sogar eine eigene Doku gewidmet hat. Die Dokumentation zeigt die „Sneakerheadz“ in ihrer wohl dekadentesten Erscheinungsform: Männer aus westlichen Industriestaaten in einem Alter, in dem man(n) traditionell eine Familie gründet, die um die Welt fliegen, um pünktlich zum Erscheinungsdatum Turnschuhe zu kaufen, die sie ihre „Babys“ nennen und deren stolzeste Lebensleistung es ist, eine größere Schuhsammlung zu besitzen als ihre Frau.