© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Wenn alle Flüssigkeit vertrocknet ist
Hausbesuch: Zu Gast bei dem aus dem Schuldienst entlassenen „Volkslehrer“ Nikolai Nerling
Martina Meckelein

Eine kleine Wohnung in Berlin. Zwei Zimmer, Küche, Bad, vierter Stock im Hinterhaus. Auf dem schmalen Balkon brütet ein Ringeltaubenpaar, deshalb kann man auf ihm zur Zeit nicht rauchen. Nicht schlimm, Nikolai Nerling (37) greift seit einem Jahr nicht mehr zum Glimmstengel. In der Küche steht auf einem kleinen Tisch allerdings noch ein Aschenbecher. Auf dem Fensterbrett eine kleine figürliche schwarze Uhr mit einer Ballerina und einer Blumensäule. „Die habe ich in Auschwitz gekauft“, sagt Nerling. Und fügt gleich hinzu: „In dem Ort, nicht in der Gedenkstätte.“ Er stockt einen Moment, schaut die Uhr an und sagt dann: „Ich finde sie hübsch, und eine Uhr muß in jeder Küche stehen.“ In zusammengestoppelten Regalen stehen Körner, Flocken, Gewürze aus dem Reformhaus. 

Die JUNGE FREIHEIT ist auf Hausbesuch beim „Volkslehrer“, so nennt sich Nerlings Youtube-Kanal im Internet. Dort folgen ihm 29.570 Abonnenten. Sie kennen die Wand mit der Sütterlinschrift-Karte und dem John-Wayne-Plakat im Hintergrund. Es ist die Stirnseite des Wohnzimmers gegenüber der Balkontür. Nicht nur in der virtuellen, auch in der realen Welt ist Nerling Lehrer, genauer: Realschullehrer. Doch am 4. Mai dieses Jahres wurde er fristlos gefeuert. Er darf seinen Beruf nicht mehr ausüben. „Ich klage mit meinem Anwalt dagegen“, aber große Hoffnung scheint der großgewachsene blonde Mann nicht zu haben. In Berlin, der Stadt, in die er 2009 extra gezogen war, um aus der für ihn zu kleinen und viel „zu grünen Gutmenschenstadt“ Freiburg zu entkommen, wird es dann an keiner öffentlichen Schule mehr einen Platz für ihn geben. So will es die Berliner Schulverwaltung.

Vom Dienst suspendiert ist er bereits seit Januar. Damals hatte die Bildungsverwaltung zudem bei der Berliner Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Nerling wegen des Verdachts auf Volksverhetzung erstattet. Die Ermittlungen dazu dauern bis heute an.

Verschwörung der Illuminaten

Die Steilvorlage dafür lieferten einige Medien – oder war es doch der „Volkslehrer“ selbst? In eine Schweigeminute für ertrunkene Flüchtlinge platzte er hinein und rief laut und vernehmlich: „Ich schweige nicht!“ In Berlin hielt er ein Schild mit einem Zitat von Horst Mahler in die Höhe: „Die Geschichte des Holocaust ist eine Geschichte voller Lügen“. In Nürnberg spazierte Nerling über das Reichsparteitagsgelände, schritt die Wege Adolf Hitlers ab. „Das ist doch Slapstick“, sagt Nerling, „das sieht man doch. Das ist eher Charlie Chaplin.“ Die Behörden sehen es allerdings anders.

Auf die Frage, wie er sich jetzt fühle, sagt Nerling wie aus der Pistole geschossen: „Gut.“ Ist das glaubhaft? Würde einem selbst die Arbeit genommen, die man liebt, es würde einem doch den Boden unter den Füßen wegreißen. Nerling studierte Biologie und Deutsch auf Lehramt. „Ich wollte unterrichten, habe früher schon meine Geschwister unterrichtet.“ Er stammt aus einem Lehrerhaushalt. Sein Vater durfte allerdings nicht den Beruf ausüben, sagt sein Sohn. „Mein Vater ist Kommunist, noch heute im VVN-BdA.“ Das ist der Verein der Verfolgten des Nazi-Regimes, der, um nicht auszusterben, sich jetzt auch Bund der Antifaschisten nennt. Seine Mutter brachte vier Kinder zur Welt, arbeitete nicht in ihrem Beruf, sondern als Erzieherin. Die Familie wohnte in Lüneburg. Rückblickend auf die Jahre im Elternhaus und noch während des Studiums bezeichnet sich Nerling selbst als „Zecke“ mit schulterlangen Haaren und Hasch rauchend. 

Nach dem Referendariat zieht er nach Berlin und beginnt mit seinem Großvater Reisen zu unternehmen – einmal im Jahr geht es nach Hinterpommern, Rügenwalde. Daher stammt die Familie, mußte fliehen. „Da erlebte ich zum ersten Mal wahres Heimatgefühl.“

In neun Jahren hat er an drei Berliner Schulen gearbeitet. „Es war natürlich in der ersten Schule ein rauher Ton, aber herzlich. Die Schüler, schon damals viele Migranten, habe ich allerdings nie als Bedrohung empfunden. Ganz im Gegenteil. Sie waren nicht so hinterhältig wie die deutschen Schüler, die sich zum Mobben gerne verabredeten.“

Aber diese Schule verläßt Nerling bald wieder. „Ich hatte mit dem Schulleiter Schwierigkeiten“, sagt er. „Der präferierte ein jahrgangsübergreifendes Lernen. Ich bin mit vier weiteren Lehrern gegangen. An der zweiten Schule wollte ich den Kindern so viel beibringen, zumal Fragen zu stellen. Ich erklärte ihnen, daß Popmusik ungesund sei. Sie ist gefährlich – unterwandert von den Illuminati.“ Die Theorie, daß die Illuminaten das Milliardengeschäft mit der Popmusik unterwandern und eine neue Weltordnung erschaffen wollen, ist bei Verschwörungstheoretikern gängig. Popmusiker hätten sich dem Teufel verschrieben, dadurch hätten sie Erfolg. Als Zeichen ihrer Verbundenheit zu Satan würden sie Symbole in ihren Videos einbauen. Das andauernde Ansehen dieser Videos würde die Kinder für Satan anfällig machen, sie leichter zu verführen.

Anzeige wegen Volksverhetzung

Einige Eltern schienen über Nerlings Aufklärungsarbeit wenig begeistert. „Zugegeben, das Ganze war von mir sicher nicht immer optimal, und ich habe die Kinder überfordert. Ich verließ die Schule nach einem Gespräch mit der Schulaufsicht“, sagt er. „Damals dachte ich auch, scheiße, wenn das das Ende ist, was mache ich dann?“

Nerling wechselte an die dritte Schule. Die Vineta-Grundschule in Gesundbrunnen. Dort unterrichtete er zuletzt Englisch, Sport und Musik. Es gab keine Beschwerden seitens der Eltern, Schüler oder des Lehrerkollegiums gegen ihn. „Im Kollegium frotzelten sie über mich und meine politische Einstellung. Ich war der Rechte – mehr nicht. Auch Schüler kannten meinen Youtube-Kanal. Es gab da keine Anfeindungen.“

Doch Anfang dieses Jahres, am 6. Januar, veröffentlichte der Berliner Tagesspiegel eine Geschichte über Nerlings Youtube-Kanal unter der Überschrift: „Berliner Grundschullehrer predigt Verschwörungstheorien“. Der Anfang vom Ende des beruflichen Angestelltendaseins. Am 8. Januar wurde Nerling beurlaubt. „Die Schulbehörde erstattete eine Anzeige wegen Volksverhetzung und gab eine Reichsbürgermeldung ab. Weil ich den Eindruck erweckt habe, ich würde die Legitimität der Bundesrepublik anzweifeln“, sagt Nerling. „Dabei opfere ich mich für das Grundgesetz auf.“

In Nerlings Weltbild vorzudringen ist nicht einfach. Neben Illuminaten-Unterwanderungen, getürkten Anschlägen und niemals stattgefundenen Schul-amokläufen hält er auch die Identitäre Bewegung für gesteuert. „Sie ist eine kontrollierte Opposition. An ihr ist alles undeutsch. Zum Beispiel hat diese Symbolik nichts mit unserer Symbolsprache zu tun. Sie erscheint mir synthetisch. Solch eine Wahnsinnsaktion wie die am Brandenburger Tor braucht enormen Vorlauf und auch genaueste Absprachen, sie riecht doch arg nach Geheimdienst.“

Nerlings Gegner bezeichnen dieses Konglomerat an Fragen, die er stellt, und Vermutungen, die er anstellt, als ein Konstrukt, das ihn als Verschwörungstheoretiker klassifiziert. Er liest Gerhard Wisnewski – natürlich, aber warum auch nicht? Seine Fans hingegen loben ihn für seinen „Mut“, seine „Opferbereitschaft“ und sein „Durchhalten“. Oftmals nur mit 3 Cent frankiert. „Meine Kriegsgefangenenpost“, sagt er liebevoll. Reichsbürger sehen sich als Kriegsgefangene der Alliierten und berufen sich gern auf die Haager Landkriegsordnung, wonach Kriegsgefangenenpost tatsächlich gebührenfrei zugestellt wird.

Sie sorgen sich um seine Gesundheit, schicken ihm Bücher – und Geld. Nerling hat ein Gewerbe angemeldet. „Im Monat komme ich durchschnittlich auf 3.000 Euro. Aber mein Leben ist auch teuer geworden. Die vielen Reisen zu den Auftritten, die Videodokumentationen, die Hotelzimmer – das kostet. Und ich spende an andere Menschen, denen es ähnlich geht wie mir, auch wiederum Geld.“ Das Geld braucht er auch. Denn sollte die fristlose und außerordentliche Kündigung Bestand haben, bekommt er nichts vom Arbeitsamt, hätte eine dreimonatige Sperrfrist.

Während des Interviews klingelt das Telefon. Ein kurzes, aber höfliches Gespräch. „Das war“, sagt Nerling, „der Direktor der Vineta-Schule. Ich soll meine Sachen abholen und den Schlüssel abgeben. Ich werde aus der Schule gejagt, wie ein räudiger Hund, jetzt da ich für die ein Nazi geworden bin, wollen sie mit mir nichts mehr zu tun haben.“

Kürzlich hatte er eine Kollegin, die er oft in seinem Auto mit zur Schule genommen hatte, angerufen und gebeten, ihm seine Gitarre mitzubringen. „Sie tat es, gab mir aber zu verstehen, daß ich nie wieder anrufen sollte und sie es allein schon als Belästigung empfand, an meinen Schrank gehen zu müssen und meine Gitarre rauszuholen.“

Er habe, so erzählt Nerling, gefragt, ob für ihn denn eine kleine Abschiedsfeier geplant sei? Für die Abschiedsfeier der früheren Direktorin hatte er noch als Musiklehrer ein Lied komponiert und mit den Schülern vorgetragen. Für den Lehrer Nerling ist keine geplant.

Über Youtube will er das Volk lehren

Nerling schildert die Menschen, mit denen er noch vor wenigen Monaten gemeinsam im Lehrerzimmer saß und lachte, äußerlich sachlich und ruhig. „Die Kollegen sind nicht bösartig“, sagt er. „Ich habe lange über das Verhalten meiner Kollegen nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß die sich einfach nicht schämen. Sie haben sich abgewandt, sie müssen konform sein. Ich frage mich nur, wie hätten die zur Zeit des Nationalsozialismus agiert?“

Und plötzlich steht Nikolai Nerling von seinem Hocker im Wohnzimmer auf, geht in die kleine Küche nebenan und kommt mit einem leeren Plastikbecher, in dessen Deckel ein Strohhalm steckt, wieder. „Der Becher ist sozusagen meine Sanduhr“, sagt er. „Hier war mal Sprite drin“, erzählt er. „Als ich damals, nach meiner zweiten Schule, in der Situation war, keinen Job zu haben, sagte ich mir, jetzt trinkst du diesen Becher nicht weiter aus. Er war etwas mehr als zur Hälfte leer“, sagt Nerling und zeigt mit dem Finger auf einen eingetrockneten Rand.

Da ist er, der Lehrer, der seinen Schülern versucht etwas anschaulich zu erläutern. „Du läßt ihn einfach stehen. Wenn alle Flüssigkeit vertrocknet ist, ist es aus mit deinem Lehrersein.“ Er dreht den Becher um, kein Tropfen rinnt herunter, am Boden ist eine eingetrocknete dunkle Neige. „Jetzt ist es für mich als Schullehrer vorbei. Endlich mache ich das, was ich wirklich gerne tue, ich bin Volkslehrer. Ich will das Volk lehren, wieder deutsch zu sein. Deutsche Lieder zu singen, deutsche Gedichte vorzutragen, deutsche Tänze zu tanzen.“

Eines seiner jüngsten Videos: ein Interview mit der wegen Volksverhetzung zu zwei Jahren Haft verurteilten 89jährigen Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck. Sie ist keine Leugnerin, meint Nerling gegenüber JUNGEN FREIHEIT. „Sie stellt Fragen.“ Wie er.