© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Die Kraft des Lebendigen
In sich ruhend: Eine Ausstellung in Güstrow zeigt Werke des Bildhauers und Grafikers Ernst Barlach
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Ausstellung „Vom ‘Liebesseufzer’ zur ‘Totenklage’“ im Barlach-Haus Güstrow widmet sich den kontrastreichen Motivwelten bei Ernst Barlach. Nebenbei bietet sie einen eigenen Zugangsweg zum Werk des norddeutschen Bildhauers und Grafikers, dessen 80. Todestag am 24. Oktober dieses Jahres begangen wird. Denn es war womöglich nicht nur die allgemeine Begeisterung seiner Generation für Johann Wolfgang von Goethe, die Barlachs Verehrung für den Ausnahmemenschen erklärt, sondern Programm. 

Denn Goethe schöpfte seine künstlerische Produktivität aus dem Umgang mit Kontrasten. Hinter sämtlichen Schaffens- und Bildungsprozessen stehe das Lebensgesetz von Polarität und Steigerung, schrieb er in seinen naturwissenschaftlichen Schriften. „Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und vereinigen“, heißt es weiter. Durch die Verbindung der gesteigerten Seiten könne „ein Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes“ hervorgebracht werden.

„Ich gehe oft am Strom“, heißt es in Barlachs Fragment „Nicht ‘Ich’“ um 1903. „Ich fühle die Kraft des Leibhaftigen, Lebendigen im Strom (…). Da sehe ich dies und das, Vernichtung, Leben, Auf und Ab; ich stehe voll Staunen und sehe Himmel von oben und Hölle von unten sich dräuend anschaun, sehe Kleines und Majestätisches verfließen.“ So betrachtet, nehmen sich die ausgestellten Werke Barlachs wie Illustrationen dazu aus: Schwertkämpfer auf Leben und Tod, Küssende in der Umarmung, sie alle verweisen auf ein allgemein Menschliches.

Das macht erklärlich, warum Barlachs Figuren, selbst in größter Leidenschaft, auf seltsame Weise in sich ruhend wirken. Der Ekstatiker wie der Einsame, sie verweisen auf etwas Gemeinsames. Allegorisch zusammengeballt finden sich diese Kontraste in dem frühen, noch stark vom Jugendstil beeinflußten „Liebesseufzer“ von 1901. Das Liebespaar horizontal auf einem Felsen ruhend, dieser besetzt von einer dämonischen Kreatur. Über dem Paar ein schmales Band Himmelslicht. Nur der Mensch kann hier beides verbinden. 

Am eindringlichsten gelingt Barlach dieser transitive Verweis bei der Darstellung von Schmerz und Trauer. Der Entwurf für ein schlichtes Ehrenmal in Stralsund von 1932 wird zu einer Pieta der Weltkriegsgefallenen. Der Holzschnitt „Kindertod“, entstanden 1919, besitzt auch nach fast einem Jahrhundert eine kaum erträgliche Intensität. Wen die Götter lieben, so heißt es in Goethes berühmtem Gedicht, dem geben sie alles. „Alle Freuden, die unendlichen,/ alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“

Barlach, den seine Zeitgenossen vor allem als dramatischen Bühnenautor wahrnahmen, machte diese Dualität von Genuß und Schmerz zum Thema in seinem Werk.


Die Ausstellung „Vom ‘Liebesseufzer‘ zur ‘Totenklage‘ – kontrastierende Motivwelten bei Ernst Barlach“ ist bis zum 24. Juni im Barlach-Haus Güstrow, Heidberg 1, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Telefon: 0 38 43 / 8 44 00-0

Die Broschüre zur Schau mit 60 Seiten und 47 Abbildungen kostet im Museum 6,90 Euro.

 www.ernst-barlach-stiftung.de