© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Jobkiller Digitalisierung
Industrie 4.0: Computer und Roboter verändern die Arbeitswelt zunehmend – mit überraschenden Verlierern
Carsten Müller

Industrie 4.0, Arbeit 4.0, Verwaltung 4.0 – diese Schlagwörter fallen, wenn es um die Perspektiven der Digitalisierung der Arbeitswelt geht. Dahinter steht die Annahme, daß sich in den nächsten Jahrzehnten der Einsatz computergestützter Systeme inklusive Robotertechniken bis hin zur künstlichen Intelligenz in allen Arbeitsbereichen deutlich ausweiten wird (JF 24/17).

Auf den ersten Blick könnte dies für die Industrienation Deutschland die einzige Lösung sein, weiterhin Wachstum und Wohlstand zu generieren. Denn die Digitalisierung scheint Antworten auf eines der größten Probleme des deutschen Arbeitsmarktes zu geben, das zunehmende Fehlen von Fachkräften. Gleichzeitig verdeutlichen immer mehr Studien – es ist ein zweischneidiges Schwert. Denn mit der Computerisierung werden sich angestammte Jobmodelle und damit Strukturen in der bisherigen Arbeitswelt grundlegend verändern. So hatte schon 2015 eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu überraschenden Erkenntnissen geführt, die an Aktualität und Brisanz nichts verloren haben.

Ausgerechnet die händeringend von der deutschen Wirtschaft gesuchten Fachkräfte könnten zu den großen Verlierern der Digitalisierung werden. Im Gegenzug stehen die Chancen nicht schlecht, daß der Sektor der einfachen und ungelernten Tätigkeiten von der Digitalisierung und dem damit einhergehenden Arbeitsplatzabbau weitestgehend verschont bleibt. Das klingt zunächst paradox.

Denn Computer und automatische Systeme sollen gerade monotone und sich immer wiederholende Arbeiten übernehmen, um damit Zeit und Kapazitäten für höher qualifizierte Tätigkeiten freizumachen. Dies zeigt sich auch in den umgesetzten oder angedachten Einsatzmöglichkeiten. So wird daran gearbeitet, etwa in der Verwaltung wiederkehrende Tätigkeiten wie Rechnungskontrolle, Meldesysteme oder Lohnbuchhaltung zu automatisieren. Arbeitsmarkt-Experten gehen davon aus, daß die dafür benötigten Softwareroboter oder Automatisierungssysteme bis zu einem Viertel der Bürojobs in Unternehmen wegfallen lassen. Unter ähnlichen Vorzeichen stehen auch die Perspektiven für qualifizierte Tätigkeiten in der Produktion. Natürlich gibt es dort viele Bereiche, für die es derzeit noch keine adäquaten Lösungsansätze gibt. Folgt man der IAB-Studie, betrifft dies insbesondere sogenannte Nicht-Routine-Aufgaben, die analytische oder interaktive Fähigkeiten erfordern. Hier können Computersysteme bislang nur unterstützend eingesetzt werden.

Bis zu einem Viertel aller Bürojobs könnten wegfallen

Aber es ist absehbar, daß mit den Forschungserfolgen im Bereich künstlicher Intelligenz (KI) auch diese Sparte unter Druck eines Austausches menschlicher Leistungen durch Maschinen geraten wird. Im Gegenzug könnten es ausgerechnet die ungelernten Tätigkeiten sein, die von einem Arbeitsplatzabbau durch die Digitalisierung verschont bleiben. Das ergibt sich aus zwei Faktoren.

Zum einen die Kostenfrage. Denn Automatisierungstechniken sind für viele Unternehmen noch immer ein teures Investitionsgut. Die finanziellen Risiken werden nur dann eingegangen, wenn dadurch auch die Produktivität deutlich gesteigert werden kann. Bei vielen ungelernten Berufen wird dies nicht der Fall sein. Der wichtigere Aspekt ist allerdings, daß es sich hierbei oft um manuelle Nicht-Routine-Aufgaben handelt. Beispiele dafür wären das Einräumen von Supermarktregalen, Hausmeister- oder Reinigungstätigkeiten bis hin zu verschiedenen sozialen Dienstleistungen, wie etwa in der Altenpflege.

Was bedeutet das konkret für den deutschen Arbeitsmarkt? Natürlich gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine wirklich gesicherten Prognosen, wie viele Arbeitsplätze die Digitalisierung in Deutschland tatsächlich kosten wird. Schätzungen gehen von 3,5 bis 4,5 Millionen Arbeitsplätzen aus. Die Prognoseunsicherheiten gehen vor allem auf den zunehmend angespannten deutschen Arbeitsmarkt zurück, insbesondere bei höher qualifizierten Tätigkeiten.

Hier ist schwer einzuschätzen, inwieweit es gelingt, möglichen Arbeitsplatzabbau an anderer Stelle zu kompensieren. Hinzu kommt, um auf das Verwaltungsbeispiel zurückzukommen, daß viele Unternehmen einfache Verwaltungsarbeiten längst ins Ausland verlagert haben. Ein entsprechender Arbeitsplatzverlust durch neue Computersysteme würde sich nur bedingt in der deutschen Arbeitsmarktstatistik niederschlagen.

Dennoch gilt: Etliche Berufe sind aufgrund ihres hohen Substitutionsgrades, also der Möglichkeit, Tätigkeiten durch Computer zu ersetzen, gefährdet. Das gilt insbesondere für Fertigungsberufe, wo die Forscher des IAB von Substitutionsraten bis zu 70 Prozent ausgehen. Die gleichen Forscher sehen bei Tätigkeiten wie Reinigung, Sicherheitsdiensten und sozialen Tätigkeiten, die allesamt dem Niedriglohnsektor zugeordnet werden können, dagegen nur Substitutionsraten von unter 20 Prozent.

Allerdings, und das gehört zu den negativen Perspektiven: Sollten sich die geschilderten Trends am Arbeitsmarkt bestätigen, dürfte es dennoch zu erheblichem Druck im Niedriglohnsektor kommen. Denn viele der durch die Digitalisierung „Freigestellten“ werden  genau dort landen – zusätzlich zu den seit 2015 eingewanderten Wirtschaftsmigranten. Damit könnte sich, wenn die Digitalisierung weiterhin aus rein ökonomischen Aspekten heraus vorangetrieben wird, die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern, was letztlich dafür sorgt, daß die eh schon gebeutelte „Mitte der Gesellschaft“ weiter ausgezehrt wird.

IAB-Forschungsbericht zur Industrie 4.0:  doku.iab.de/





Was bedeutet eigentlich Industrie 4.0?

Die industrielle Produktion ist seit Jahrhunderten geprägt durch Revolutionen. Nach der Mechanisierung Ende des 18. Jahrhunderts (Industrie 1.0), der Massenproduktion durch Elektrizität Ende des 19. Jahrhunderts (Industrie 2.0) und der Automatisierung mittels Computertechnologie im 20. Jahrhundert (Industrie 3.0) hält seit einigen Jahren die Digitalisierung (Industrie 4.0) Einzug in die Arbeitswelt. Mit ihrer Hilfe soll eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion geschaffen werden. Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren direkt miteinander. Herkömmliche Strukturen, die auf zentralen Entscheidungen basieren, werden durch selbststeuernde und miteinander vernetzte Produktionssysteme ersetzt. Dadurch soll es möglich werden, nicht mehr nur einen Produktionsschritt, sondern ganze Wertschöpfungsketten zu optimieren. Der nur im deutschsprachigen Raum verwendete Ausdruck Industrie 4.0 geht dabei auf ein gleichnamiges Projekt der 2006 initiierten Hightech-Strategie der Bundesregierung zurück, weshalb Kritiker häufig von einem Marketingbegriff sprechen.