© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

„Das kann die Welt verändern“
Asylpolitik: Die AfD klagt in Karlsruhe gegen die Bundesregierung/ Rechte des Bundestags verletzt/ Untersuchungsausschuß noch fraglich
Jörg Kürschner

Bald drei Jahre nach der Öffnung der Grenzen im September 2015 deutet sich an, daß der Hergang und die Folgen der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu verantwortenden Flüchtlingspolitik juristisch und parlamentarisch aufgearbeitet werden. Die Regierung muß sich mit einer Organklage der AfD-Bundestagsfraktion befassen. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD stellen sich auf einen Untersuchungsausschuß des Bundestags ein, der die Versäumnisse im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aufklären soll.

Stephan Brandner, Justitiar der AfD-Bundestagsfraktion, ist ein Freund spektakulärer Formulierungen. „Diese Klage kann die Welt verändern. Und sie wird die Welt verändern, wenn sie erfolgreich ist.“ Merkel müsse dann „im Nullkommanichts“ das Kanzleramt räumen. Nach Ansicht der drittstärksten Fraktion im Parlament hat die damalige Große Koalition mit ihrer Einwanderungspolitik die Mitwirkungsrechte des Bundestags verletzt. Das Bundesverfassungsgericht soll feststellen, daß Merkel das Recht gebrochen hat, als sie entschied, Flüchtlinge an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland nicht abzuweisen. Als Prozeßvertreter hat die AfD den bekannten Staatsrechtler Ulrich Vosgerau aufgeboten, der eine schrittweise Veränderung der Verfassungspraxis in Deutschland konstatiert hat. Politische Grundsatzentscheidungen würden immer mehr vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt statt im Bundestag behandelt. Als Beispiel nennt er den 1992 geschlossenen Maastricht-Vertrag der EU-Staaten zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie den Vertrag von Lissabon, der 2009 etwa die Kompetenzen des Europäischen Parlaments erweitert hat. 

In seiner Argumentation stützt sich der Privatdozent von der Universität Köln auf die Wesentlichkeitstheorie des höchsten deutschen Gerichts. Danach verbiete es der verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsgrundsatz, „so fundamentale wie irreversible Entscheidungen über die gesamte Einwanderungspolitik und die künftige Zusammensetzung der Bevölkerung über geraume Zeit hinweg und massenhaft ‘selbstherrlich’, ohne eine Beteiligung des Deutschen Bundestages und ohne gesetzliche Grundlagen zu treffen“, wie es in der 99seitigen Klageschrift heißt. Vosgerau hatte Merkel bereits Anfang 2016 in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT (JF 3/16) des „verfassungswidrigen Regierungshandelns“ geziehen. 

Daß Justitiar Brandner nicht völlig von den Chancen der Klage überzeugt zu sein scheint („wenn sie erfolgreich ist“), mag an einer fehlenden Klagebefugnis der AfD-Fraktion liegen, die während des Höhepunkts der Flüchtlingskrise noch nicht im Bundestag vertreten war. Dem hält Vosgerau entgegen, daß die AfD erst mit ihrem Einzug in den Bundestag „gegen den ständigen Rechtsbruch und die fortschreitende Aushöhlung des parlamentarischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland gerichtlich vorgehen“ könne. „Dadurch trägt die Klägerin entscheidend zur Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen bei“. Im übrigen dauere die Rechtsverletzung der Regierung an, denn „täglich werden 500 neue Asylantragsteller an der Grenze eingelassen“. 

Diese hätten wie auch die schätzungsweise über eine Million zuvor ins Land gekommenen Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen werden müssen, da sie aus Österreich und Italien, also aus sicheren Drittstaaten eingereist seien, argumentiert der Verfassungsrechtler und verweist auf Artikel 16a Grundgesetz. In diesem Fall können sich politisch Verfolgte nicht auf das Asylrecht berufen. Nun gelten auch hier wie so häufig bei rechtlichen Regelungen Ausnahmen. Nach der sogenannten Dublin-Verordnung kann Deutschland jederzeit Asylverfahren durchführen, auch wenn andere Staaten zuständig sind. Mit diesem Selbsteintrittsrecht hatte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) Anfang 2016 die ungehinderte Masseneinwanderung nach Deutschland zu rechtfertigen versucht. Brandner entgegnete, eine solche Ausnahme sei vielleicht während weniger Tage im Herbst 2015 gerechtfertigt gewesen, „als die Massen aus Ungarn kamen“. Mit der fortdauernden Grenzöffnungspolitik Merkels sei aber eine „Grundsatzentscheidung für millionenfache Einwanderung“ verbunden, die vom Bundestag hätte beschlossen werden müssen. 

Opposition zieht nicht       an einem Strang

Brandner und Vosgerau hielten der Regierung eine „Herrschaft des Unrechts“ vor, die der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer der Kanzlerin bereits im Februar 2016 unterstellt hatte. Damit hatte der CSU-Politiker einen Terminus hoffähig gemacht, den Vosgerau kurz zuvor in einem Interview des Cicero erstmals gebraucht hatte. Eine Formulierung, die dem heutigen Bundesinnenminister Seehofer derzeit schwer zu schaffen macht. Mitte April war bekanntgeworden, daß in der Bremer Außenstelle des Bamf rechtswidrig bis zu 2.000 Asylanträge durchgewinkt worden sind. Inzwischen werden 18.000 Bescheide überprüft. Und es verdichtet sich der Verdacht, daß das Bundesamt von den Unregelmäßigkeiten wußte und die Aufklärung aus Angst vor Schlagzeilen eher lustlos betrieb. In den Koalitions- und Oppositionsfraktionen wird mit einem Rücktritt von Amtschefin Jutta Cordt gerechnet. Seehofer will erst am 19. April vom Skandal erfahren haben, was die Opposition bezweifelt. Ein Untersuchungsausschuß könnte für Aufklärung sorgen, würden die Oppositionsfraktionen an einem Strang ziehen. AfD und FDP verlangen zwar eine Einsetzung, verfügen aber nicht über das erforderliche Quorum eines Viertels der insgesamt 709 Abgeordneten. Linke oder Grüne müßten beispringen, lehnen aber bisher ab. Die Grünen hoffen, die Vorgänge um das Bamf durch mehrere Sondersitzungen des Innenausschusses aufzuklären, die Linke hält sich zurück. Beide Fraktionen scheuen einen gemeinsamen Antrag mit den „Rechtspopulisten“. Die FDP scheint da weniger Berührungsängste zu haben. Sie will zwar wie die AfD die gesamte Flüchtlingspolitik seit 2014 zum Gegenstand der Untersuchung machen, aber eine „polemische Kritik an Personen“ verhindern. Ein „Befassungsverbot“ für AfD-Themen gebe es für die FDP nicht, stellte deren migrationspolitische Sprecherin Linda Teuteberg klar.