© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Lieber unter das Dach der transnationalen Oligarchie
Mit seinem Furor gegen den „überholten“ Nationalstaat isoliert sich Deutschland / Der Soziologe Wolfgang Streeck hält dagegen
Wolfgang Müller

Ob Geschichte eine Wissenschaft ist? Daran könnte zweifeln, wer sieht, wie nachhaltig das Geschichtsbild von Historikern vom Geburtsjahr und frühen Prägungen abhängt. So hat der 1931 in Neuruppin geborene Gerd Heinrich auf Ferienreisen zu Verwandten in Ostpreußen und Schlesien noch ein ungeteiltes Deutschland kennengelernt. Ein Eindruck, „der ihn nie losgelassen“ habe, wie sein Biograph Peter Bahl berichtet (Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands,  Band 60/2014). Deswegen lag es für den nachmals führenden Preußen-Historiker stets außerhalb des Vorstellbaren, die deutsche Teilung zu akzeptieren, wie das bei den meisten seiner jüngeren Kollegen an der FU Berlin der Fall gewesen sei.

Nur Deutschland will im EU-Großstaat aufgehen

Wie etwa bei Jürgen Kocka, 1941 im „Sudetengau“ geboren. Der Mitbegründer der Geschichte als „Historische Sozialwissenschaft“ verstehenden Bielefelder Schule faßte Deutschlands Teilung nicht wie Heinrich als „überwindbaren Unfall“, sondern wie Günter Grass als gerechte Strafe für kollektive Schuld auf. Bei Kocka, so berichtet der Münsteraner Historiker Erich Kosthorst, Jahrgang 1920, Frontoffizier, Biograph Jakob Kaisers, des Widerstandskämpfers und Ministers für Gesamtdeutsche Fragen, habe ihn der Umgang mit der deutschen Nationalgeschichte „außerordentlich irritiert“. Habe Kocka doch empfohlen, die Bonner Republik, wolle sie „zu sich selbst kommen“, müsse die Bindung an gesamtdeutsches Nationalbewußtsein kappen. Denn die Erinnerung an diese Geschichte verpflichte auf nationale Traditionen, die BRD und DDR gemeinsam hätten. Wer an ihnen festhalte, stärke nicht die wünschenswerte „bundesrepublikanische Identität“.

Die mit dem Kappen der Wurzeln eintretende Traditionslosigkeit, so zitiert der entsetzte Kosthorst, der es mit seinem Monumentalwerk über die Emslandlager (1983) wahrlich nicht an der Aufarbeitung von Schuld hat fehlen lassen, seinen Kollegen Kocka, sei der Preis dafür, mittels „Destabilisierung historischer Erinnerungen“ den postnationalen „Bundesbürger“ zu erziehen. 

Mit diesem Projekt feierte die „Generation Kocka“ nach der Wiedervereinigung geradezu Triumphe. Den Nationalstaat halten bundesdeutsche Funktionseliten heute daher einmütig für „überholt“, konstatiert kopfschüttelnd der Soziologe Wolfgang Streeck in einem Beitrag zum Themenheft „Nation“ der Kulturzeitschrift Universitas (Heft 3/2018). Streeck, Jahrgang 1946, Direktor emeritus am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, hat jahrzehntelang intensiv über den Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaft und Politik geforscht. Und er ist zu dem Schluß gelangt, daß es für die Demokratie keinen zuverlässigeren Garanten gebe als den Nationalstaat („Gekaufte Zeit. Die demokratische Krise des demokratischen Kapitalismus“, Berlin 2013). Die nationale Souveränität des Volkes sei daher folgerichtig „der Hauptfeind des Neoliberalismus“ (Chantal Mouffe), der deshalb supranationale Gebilde wie die EU als Vorstufe zur Weltgesellschaft und zur unumschränkten Herrschaft des Weltmarkts präferiere.

Obwohl die EU seit 1989 auf zentralen Politikfeldern wie Wirtschaft und Währung oder dem Schutz der Außengrenzen immer kläglicher versage, obwohl die auf „Globalisierung“ fixierten Brüsseler Oligarchen ihre neoliberalen Versprechungen vom Wohlstand für alle nicht einlösen können, beschwören vor allem ihre Gefolgsleute hierzulande weiterhin stur die „Überwindung des Nationalstaats“, suchen nach Wegen, nicht mehr sie selbst sein zu müssen und gieren nach Selbstaufopferung im Dienst Europas. Ein „Europa-Diskurs“, den ihre Nachbarn zunehmend als „neo-imperialen Herrschaftsanspruch“ fürchten. Vom Brüsseler „Superstaat“ wolle nicht einmal Frankreich etwas wissen. Schon François Mitterrand habe daher Helmut Kohl die „politische Union“ verweigert, die der deutsche Europa-Enthusiast auch – „übrigens zu Recht“ – als Voraussetzung für eine funktionsfähige Währungsunion ansah. 

Alle anderen Mitglieder sind der EU nicht beigetreten, um nach deutschem Muster ihre nationale Souveränität an sie abzugeben. Sondern im Gegenteil, um sie zu verteidigen oder überhaupt erst voll zu verwirklichen. Die überwiegend kleinen Mitgliedsstaaten wollen nicht im Großstaat aufgehen, weil sie der Devise huldigen: „Je kleiner eine Bevölkerung, desto homogener wird sie in der Regel sein, und Homogenität erleichtert die Wahrung des sozialen Zusammenhalts“, der wiederum die Bürger zu demokratischer Beteiligung motiviere. Die Alternative ist die „Ersetzung nationalstaatlicher Demokratie durch internationale Diplomatie und Technokratie unter der Kontrolle einer transnationalen Oligarchie“.

„Wir sind alle Einwanderer!“ als antideutsches Postulat

Im Gegensatz zu Streeck hält der in London lehrende Literaturhistoriker Rüdiger Görner, Jahrgang 1957, nicht diesen Zug der Lemminge, sondern den im Brexit zutage getretenen nationalen Selbstbehauptungswillen Englands für das Symptom einer „psychopolitischen Befindlichkeit“, die „unstreitig krankhafte Züge“ annehme. Wesentlich gesünder präsentiert sich da natürlich der Beitrag des Pastorensohns Johannes Fried, Jahrgang 1942. Der Frankfurter „postmoderne“ Mediävist, wegen phantasievoller Ausschmückungen seiner Mittelalter-Darstellungen von der Kritik nicht gestreichelt, bemüht, unter peinlicher Auslassung der wichtigsten Quelle, des Gesprächs mit Heinrich Luden (1813), etwa Goethe, um sich wieder einmal antideutsch zu äußern und zu posaunen: „Wir sind alle Einwanderer!“ Weil Europas Vorfahren nämlich aus „Bauernkulturen des vorderen Orients“ stammen.

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