© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Den Opfern eine Stimme geben
Projekt eines universellen Kriegsmuseums: Claudio Magris legt ein gewaltiges Epos über die Grausamkeiten von Krieg und Unterdrückung vor
Felix Dirsch

Sammelleidenschaften gibt es unzählige. Zu den skurrilsten Projekten zählt der Bau eines universalen „Kriegsmuseums zum Zwecke des Friedens“. Ein ehemaliger Soldat, der Exzentriker Diego de Henriquez, verfolgte den Plan sein ganzes Leben. Schließlich vernichtete ein Brand etliche von den erworbenen Stücken und kostete ihn sein Leben. Kriegsgerät en masse häufte er an: Panzer, Kanonen, Kriegsküchen, U-Boote, Wurfspieße und vieles mehr. Vollendet wurde die Unternehmung von anderen. Seit einigen Jahren kann der Besucher von Triest nun das „Civico Museo della Guerra per la Pace Diego de Henriquez“ etwas außerhalb des Stadtzentrums besichtigen. Es handelt sich um eine Hauptattraktion.

Unlängst hat sich ein Triester Literat, der emeritierte Germanistikprofessor Claudio Magris, des Themas angenommen. Als grandioser Rekonstrukteur mitteleuropäischer Kulturtraditionen kämpft er gegen das Vergessen. Reizvoll ist es für ihn, weniger die materiellen Hinterlassenschaften von Kampf und Zerstörung zu erforschen als sie mit jenen Menschen (meist fiktiv) zu verbinden, die damit getötet haben oder getötet worden sind.

Gerade an seinem Heimatort braucht Magris, der neben vielen anderen Preisen auch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, nicht lange zu suchen, um einen zentralen Platz des Schreckens näher unter die Lupe zu nehmen, der auf die Amnesie seiner Landsleute hinweist: die ehemalige Reisfabrik von San Sabba. Sie fungierte als das einzige Konzentrationslager auf italienischem Boden mit Gas- und Verbrennungsöfen. Viele Geschichten, die rund um diese Anlage in den ersten Jahren nach Kriegsende noch präsent waren, fielen schnell dem Vergessen anheim. Graffiti-Schmierereien, die die Namen der Verräter und Peiniger festhielten, übertünchte man bald.

Magris nun hat diese historischen Vorgaben in einen furiosen Erzählkosmos verwandelt. Er gibt Einblicke in die imaginären Säle des Museums und erweckt die Obsessionen des kauzigen Sammlers zum Leben. Diese Darstellung bildet einen der beiden hauptsächlichen Erzählstränge. Als Literat von Rang ist er in der Lage, Ängste, Gefühle, Nöte, rund um Leben und Tod, lebendig werden zu lassen. Auf diese Weise wird das eher kalte Handwerk des Historikers, der die Fakten zutage fördert, ergänzt. Den Opfern des Krieges, weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus, wird eine Stimme gegeben, zuweilen auch dem Schicksal der Täter nachgespürt. Zu ihnen zählt der gefürchtete SS-Führer und Kriegsverbrecher Odilo Globocnik.

Als eine der Hauptfiguren fungiert Luisa, Tochter einer Jüdin und eines farbigen Besatzungssoldaten. Sie soll das Museum nach dem Brand rekonstruieren. Es liegt nahe, die vielfältigen Erlebnisse ihrer Vorfahren auszubreiten. Geschichte setzt sich aus Geschichten zusammen. Der Roman wird durchzogen von Reflexionen über die Erfahrungen der Familie, über Ausgrenzung und Diskriminierung, die die Vorfahren erdulden müssen. 

Gekonnt zeichnet der Verfasser die Verfluchungsgeschichte der Farbigen bis zum biblischen Ham, des Sohnes Noahs, und Hams Sohn Kanaan nach. Die entsprechenden Episoden der Heiligen Schrift wurden gerade in den USA oft zur Rechtfertigung der Sklaverei herangezogen. Das Nebeneinander von Menschenhandel und Shoa gehört zu den eindrucksvollsten Passagen des Textes. Daraus wird der zweite narrative Strom gebildet. Immer wieder werden entsprechende Schicksale eingeblendet.

Magris zeigt anhand einiger Beispiele auch auf, daß Erinnerungsgeschichte stets interessengeleitet ist und eben nicht frei von nachträglicher „Arbeit am Mythos“. Auf einer Tafel am Eingang des Friedhofs von Machowa (Polen) kann man lesen: „Otto Schimek, hingerichtet von der Wehrmacht, weil er sich weigerte, auf die polnische Zivilbevölkerung zu schießen.“ Die hier verewigte Legende hat sich lange gehalten. Jede Seite hörte sie gern. Die Nachkommen der Täter konnten auf jemanden verweisen, dem in Ehre zu gedenken sei: einem österreichischen Gefreiten, der sogar von Johannes Paul II. anläßlich seines Besuches in Österreich beinahe geehrt worden wäre. Die Polen freuten sich, daß der christliche Glaube mutmaßlich gewissensschärfend wirkte.

Die Realität dürfte indessen trivialer gewesen sein. Die Überprüfung des Falls durch den Jesuitenpater Lothar Groppe und andere macht den Tatbestand der Fahnenflucht wahrscheinlich.

Gewiß findet sich der Leser in dem Fabulierlabyrinth Magris’, welcher der aussterbenden Spezies des Kaffeehausliteraten zuzurechnen ist, nicht leicht zurecht. Aber die Bewohner Triests dürfen sich glücklich schätzen, daß er als Instanz ihres Kollektivgedächtnisses über ihnen thront. 

Claudio Magris: Verfahren eingestellt. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017, gebunden, 396 Seiten, 25 Euro