© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

„Die deutsche Selbstzerstörung“
Kaum eine Katastrophe hat Deutschland so geprägt wie der Dreißigjährige Krieg. Der Historiker Peter H. Wilson hat ein Standardwerk dazu geschrieben. Er zeigt die tiefe nationale wie auch europäische Dimenson der Tragödie – und räumt mit manchem Klischee auf
Moritz Schwarz

Herr Professor Wilson, war der Dreißigjährige Krieg „das“ historische Trauma der Deutschen? 

Peter H. Wilson: Ja, bis er als solches von Zweitem Weltkrieg und Holocaust abgelöst wurde. Wie stark seine Wirkung ist, zeigt, daß er selbst heute, obwohl vom Zweiten Weltkrieg „überholt“, nicht vergessen und auch immer noch eine Chiffre für Grauen ist. Was verbinden normale Leute heute zum Beispiel noch mit dem Siebenjährigen Krieg oder den Napoleonischen Kriegen? Nichts, das ist Historie. Der Dreißigjährige Krieg dagegen ist immer noch ein Sinnbild. Und das nach vierhundert Jahren und ohne die Flut an Fotos und Filmen, ohne die noch lebenden Zeitzeugen und ohne die massive Medienpräsenz, die uns den Zweiten Weltkrieg in Erinnerung hält.   

Und er steht auch für das Unglück der Zersplitterung Deutschlands. Mahnt er uns also zur nationalen Einheit? 

Wilson: Da widerspreche ich, denn das ist die nachträgliche Interpretation der nationalen deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, die mit Fingerzeig auf diese die Reichseinigung 1871 unter Preußen rechtfertigte. 

Aber trifft die Deutung nicht dennoch zu?

Wilson: Nein, es handelt sich um eine Simplifizierung zu politischen Zwecken. Denn der Dreißigjährige Krieg hat das staatliche Gefüge des Reiches nicht zerstört, es hat auch danach funktioniert.

„Funktioniert“ ist relativ: Vergleicht man das Reich mit den frühen Nationalstaaten Frankreich und England, war das nicht der Fall. Denn diese stiegen zu Weltmächten auf und modernisierten sich – Merkantilismus, Imperialismus, Industrialisierung – während Deutschland etwa bis zur Reichseinigung von 1871 abgehängt blieb.

Wilson: Das stimmt, wenn Sie unter Modernisierung nur diese Aspekte verstehen. Tatsächlich aber sind das ja nicht ihre einzigen Formen. Was etwa die gesellschaftliche Modernisierung angeht – so die Entwicklung der Bürgerrechte, der Umgang mit anderen Konfessionen oder die Stellung der Frau –, war man da in einigen deutschen Staaten weiter als in Frankreich oder England. Und wenn wir genauer hinschauen, dann waren Frankreich und England damals auch noch gar nicht die einheitlichen Staaten, für die wir sie halten mögen. Dieser eigentlich falsche Eindruck kommt vor allem vom Blick auf die Landkarten der Zeit, die die beiden Königreiche einheitlich, das Heilige Römische Reich aber horrend zersplittert darstellen. Doch tatsächlich war Frankreich innerlich ebenfalls äußert fragmentiert, und beide, Frankreich und England, wurden ebenfalls von Phasen enormer Instabilität heimgesucht – Frankreich von Jahrzehnten revolutionärer Wirren, England von Bürgerkrieg und Cromwell-Diktatur, Glorreicher Revolution, Jakobiten-Aufstand etc.

Hätte der Kaiser den Dreißigjährigen Krieg gewonnen, wäre Deutschland dann auch zu einem frühneuzeitlichen Nationalstaat geworden?

Wilson: Das hätte zwar die Stellung  des  Kaisers und des Katholizismus gestärkt, aber aus dem Reich keinen Nationalstaat gemacht. Schon weil die Habsburger, die den Kaiser stellten, nicht danach strebten – und das wiederum, weil sie davon gar keine Vorstellung hatten. Sie dachten, wie alle in Deutschland damals, in den traditionellen verfassungsrechtlichen Kategorien des Reiches. Und hätten sie gesiegt, hätte das Reich ja in ihrem Sinne wieder funktioniert – es hätte dann also für sie erst recht kein Interesse bestanden, etwas zu ändern. Und erst recht hätte ein Sieg der protestantischen Fürsten keinen Nationalstaat gebracht, da diese dann noch mehr ihre Eigenstaatlichkeit kultiviert hätten.

Egal also ob Sieg, Niederlage oder Patt – es hätte für diesen Krieg keinen „guten“ Ausgang gegeben? 

Wilson: Am besten wäre gewesen, er wäre nicht geführt oder wenigstens rasch beendet worden. Denn seine Tragödie lag nicht, wie bei anderen Kriegen, in seinem Ende – einer Niederlage –, sondern seiner Endlosigkeit.          

Zuvor gab es in Europa schon einen Hundertjährigen und einen Achtzigjährigen Krieg – da erscheint ein „nur“ Dreißigjähriger Krieg gar nicht so spektakulär. Warum ragt er historisch dennoch heraus?

Wilson: Nehmen wir den bedeutenderen der beiden, den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich als Beispiel: Eigentlich war das nicht ein Krieg, sondern eine Reihe von Kriegen, mit längeren Friedenszeiten dazwischen. Zudem fanden Kämpfe nur in einigen Regionen statt, nicht wie im Dreißigjährigen Krieg fast im ganzen Reich. Letzterer tobte also viel intensiver, und so waren auch die Verwüstungen. Am Ende waren weite Teile Deutschlands verheert und entvölkert: Etwa ein Drittel der 18 Millionen Deutschen ließ ihr Leben.  

Keine Seite schonte die Bevölkerung, auch nicht die eigene. Warum?  

Wilson: Viele glauben, weil die Soldaten alle Söldner gewesen seien und kein Empfinden für Freund und Feind gehabt hätten. Doch das ist falsch. Die Mehrzahl der Soldaten waren ausgehobene Landeskinder, die ein Gefühl der Identität mit Land und Leuten und ihrem Herrscherhaus hatten. Und auch die Söldner waren keineswegs alle nur an Sold und Beute interessiert. Viele kämpften ebenso für Überzeugungen, etwa der schottische Söldnerführer Robert Monro, der mit seinen Männern kam, um für die Sache des Protestantismus und das Interesse des Hauses Stuart in diesem Krieg zu kämpfen. Sie sahen sich als ehrenwerte Männer und wären empört gewesen, hätte man ihnen rein materielle Motive unterstellt.  

Also gab es bereits eine nationale Identität?

Wilson: Identität war damals weit vielschichtiger als heute. Die Menschen fühlten viel stärker auch regional und religiös verwurzelt. Zudem waren in Deutschland Staat und Nationalität nicht das gleiche. Man war durchaus Deutscher – doch die engste politische Bindung hatte man an seinen jeweiligen Landesfürsten. Es gab aber auf jeden Fall  ein Bewußtsein dafür, ob man eigene Zivilbevölkerung vor sich hatte oder die im Land des Gegners. Der eigentliche Grund für die Ausplünderung mitunter auch eigener Bevölkerung war, daß die Staaten damals nicht in der Lage waren, ihre Armee zu versorgen, weshalb diese „aus dem Land“ leben mußte. Obwohl alle Kriegsparteien offiziell detaillierte Anweisungen erließen, Zivilisten zu schonen und bei Requirierungen die geschädigten Bauern oder Bürger zu bezahlen. Doch von was? Denn alle Kriegsparteien litten chronisch an Geldnot, zumal der Krieg den Einzug der Steuern erheblich erschwerte. 

Also hatten die Deutschen von damals ein Empfinden dafür, daß die Zerstörung feindlichen Landes auch immer die Zerstörung eines Stücks Deutschlands war? 

Wilson: Oh ja, wir wissen das aus Zeugnissen etwa von Dichtern, denken Sie zum Beispiel an die Verse „Tränen des Vaterlandes“ des Andreas Gryphius. Der Sinn für die Tragödie – die einer deutschen Selbstzerstörung – war präsent. In Appellen an die Mächtigen, endlich Frieden zu schließen, war oft davon die Rede, doch an das gemeinsame Vaterland oder das Reich zu denken. Das waren überparteiliche Kategorien, die von Katholiken wie Protestanten gleichermaßen akzeptiert wurden. Der Kaiser wiederum appellierte, den Widerstand gegen ihn einzustellen, um gemeinsam gegen die durch den Krieg ins Land gekommenen Franzosen oder Schweden vorzugehen.

Heute stellen wir uns vor, ein Kaiser oder König vertritt das nationale Interesse – das war damals allerdings nicht so? 

Wilson: Vorsicht, erneut vertreten Sie da das typische Klischee der national gesinnten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Die warf den Habsburger-Kaisern der frühen Neuzeit mitunter gar Verrat an Deutschland vor, weil diese angeblich nicht das Interesse des Reiches, sondern nur das ihres Hauses verfolgt hätten. Das aber ist eine Projektion moderner Auffassungen auf die Vergangenheit. Denn damals war gar nicht klar, was das Interesse des Reiches war und zwar, weil man uneins darüber war, wie die Reichsverfassung zu deuten sei. Darum gerade ging es ja im Dreißigjährigen Krieg: Kaiser und Fürsten stritten um ihre politische Stellung. Der Kaiser interpretierte die Verfassung zu seinen Gunsten, sah also gar keinen Gegensatz zwischen den Interessen seines Hauses und denen des Reiches – und ebenso die andere Seite, die protestantischen Fürsten. Jeder sah sich im Recht und wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sein Handeln gegenüber dem Reichsinteresse für fragwürdig zu halten. Ja, jede Seite glaubte gar, daß das politische System des Reiches dann funktioniere, wenn sie sich durchsetze und daß es beim Sieg der anderen Seite scheitern würde.  

Ihr Buch „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“ gilt inzwischen als Standardwerk. Warum war diese deutsche Katastrophe eine „europäische Tragödie“?

Wilson: Weil bis zu zehn europäische Länder darin verwickelt waren.

Allerdings doch freiwillig, um ihre Interessen durchzusetzen und Vorteile, etwa deutsche Ländereien, zu erlangen. 

Wilson: Das stimmt zwar, doch gleichzeitig bedeutete der Krieg auch für ihre Völker tragische Verluste. Dänemark etwa profitierte als Macht, doch die Dänen selbst bezahlten ihre Einmischung mit dem Tod jedes zehnten Landeskindes. Auch die Verluste Spaniens waren erheblich, der Blutzoll der Schweden sogar außerordentlich! Und auch der finanzielle Einsatz der ausländischen Mächte war beträchtlich. Leid und Kosten brachte der Krieg also nicht nur für die Deutschen, sondern für etliche Völker. 

1648 endete der Krieg aus Erschöpfung mit einem Patt. Hat er also zu nichts geführt? 

Wilson: Ja und nein. Zum einen ist auch das ein Grund, warum ich von Tragödie spreche – weil der Krieg im Grunde unnötig war. Denn am Ende mußte man die Einigungen eingehen, zu denen man anfangs nicht bereit war. Andererseits – da man anfangs dazu eben nicht bereit war, brachte der Krieg immerhin diese Notwendigkeit; so daß 1648 der Fortschritt kam, zu dem durchzuringen man sich 1618 noch nicht in der Lage sah. Daneben gab es aber natürlich einzelne, die Vorteile zogen, etwa Bayern, das die Oberpfalz und die Kurfürstenwürde gewann, oder der schwedische König, der mit Wismar, Vorpommern und Rügen belehnt wurde und als Reichsfürst nun auch im deutschen Reichstag saß.

Als Haupterrungenschaft des Krieges gilt das „moderne“ Völkerrecht. Stimmt das?  

Wilson: Ja, der Westfälische Friede, mit dem der Krieg 1648 endete, gilt als Geburt des modernen internationalen Systems, das auf dem Prinzip des souveränen Staates fußt. Allerdings war das keine direkte, sondern eine Langzeitfolge. Denn in den Friedensverträgen findet sich kaum etwas von Staatssouveränität und davon, wie Staaten miteinander umgehen sollen. Diese Prinzipien entwickelten sich erst später aus der Interpretation der Verträge und verbreiteten sich im 19. Jahrhundert dann weltweit. 

Dann wirkt der Westfälische Friede bis heute nach? 

Wilson: Durchaus, denn unsere Vorstellung einer internationalen Ordnung, wie wir sie etwa in der Uno konzipiert sehen, kommt daher: die Idee von einer Welt souveräner Nationalstaaten, die alle mit gleichen Rechten ausgestattet sind. 

Wie lange hat die Prägung durch diesen Frieden in Deutschland selbst gewirkt? 

Wilson: Dabei geht es ja vor allem um die Frage nach dem Verhältnis von Reich und deutschen Territorialstaaten, wie etwa Bayern, Sachsen oder Hannover. Diese Ordnung hielt bis zum Ende des Reiches durch Napoleon 1806. Aber auch die Ordnung nach Napoleon, der sogenannte Deutsche Bund, war von Grundsätzen, die sich aus dem Westfälischen Frieden entwickelt hatten, beeinflußt. Und selbst in der deutschen Reichseinigung 1871 und ihrer Reichsverfassung finden wir Elemente der Westfälischen Ordnung – und zwar im föderalen Element. Denn das Kaiserreich der Hohenzollern war ja kein Zentral-, sondern ein Bundesstaat. Und diese Tradition wiederum hat sich bis heute – wenn auch mit Unterbrechung im Dritten Reich – in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland erhalten. 







Prof. Dr. Peter H. Wilson, ist Lehrstuhlinhaber für Kriegsgeschichte an der Universität Oxford. Der Historiker lehrte an verschiedenen britischen und amerikanischen Hochschulen, darunter dem National War College in Washington, D.C. 2011 war er zudem Gastdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Er schrieb mehrfach über die deutsche Reichsgeschichte, etwa in „From Reich to Revolution. German History 1558–1806“ (2004) oder „The Holy Roman Empire. A Thousand Years of Europe’s History“ (2016). Bereits 2009 erschien sein, nun auch auf deutsch übersetztes, mehr als tausendseitiges Buch „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. Die „schiere Breite seiner Schilderungen der Ereignisse und ihrer Hintergründe“ mache Wilsons Werk „unverzichtbar“ und hebe es „über die neuere deutsche Forschungsliteratur zum Dreißigjährigen Krieg weit hinaus“, so die FAZ. Geboren wurde Peter Hamish Wilson 1963 im Londoner Stadtteil Croydon.

Foto: Tod im Gefecht (Schlacht bei Lützen, 1632): „Der Krieg endete mit dem Westfälischen Frieden, von dem sich Elemente bis heute in der Bundesrepublik Deutschland erhalten haben“

 

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