© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Der Flaneur
Allons enfants de la patrie
Konrad Markwart Weiß

Ein runder Geburtstag in der Stadt Karls des Großen, begangen unmittelbar neben dem Aachener Kaiserdom. Die abendliche Feierrunde tritt im schicken Gastronomiebereich des Centre Charlemagne zusammen – so der vermutlich von findigen Weltoffenheitsstrategen ersonnene offizielle Name des Stadtmuseums. Strahlend nimmt die seit Jahrzehnten hier im Dreiländereck lebende französische Jubilarin die verdienten Huldigungen von Familie und durchwegs kultiviert-frankophilem Freundeskreis entgegen. 

Die launigen Würdigungen werden von Bildprojektionen begleitet; auch Eugène Delacroix’ berühmtes Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ kommt zu seinen Ehren. Beim Anblick der emblematischen Barbusigen, die mit emporgereckter Trikolore über die Barrikaden stürmt, stimmt jemand die Marseillaise an und auch textfeste Deutsche fallen fidel mit ein. Der Refrain dieses „Kriegslieds für die Rheinarmee“ – Unreines Blut tränke unsere Furchen! – läßt zwar durchaus patriotische, aber feinfühlige Franzosen unter den Gästen befürchten, mit einem Fauxpas die anwesenden Allemands zu verstimmen. Auf Nachfrage kann der Flaneur beruhigen: Die einzige Nationalhymne, deren Anstimmen die meisten Deutschen verstören könnte, ist ihre eigene. 

Europäisch ist es in den Bahnhofsvierteln an Seine und Main jedoch eher weniger.

Der spätere Verlauf der Reise führt vom Pariser Gare de l’Est zum Frankfurter Hauptbahnhof. Da wie dort entlassen blitzsaubere Fernzüge den Reisenden in eindrucksvolle Bahnhofshallen samt ihren üppigen Freßmeilen; danach aber trübt sich das schnieke Bild in den heruntergekommenen umliegenden Quartieren rapide. Wenngleich in anderer Form, verfestigt sich der Aachener Eindruck auch hier: Europa wächst tatsächlich zusammen, das Publikum in den Bahnhofsvierteln an Seine und Main: kaum voneinander zu unterscheiden. Europäisch ist es da wie dort allerdings selten. Erst recht nicht deutsch oder französisch, vermerkt nachdenklich der Flaneur, der beides ist.