© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Ein Abhauer wird Popstar
Ulrich Chaussy hat seine 35 Jahre alte Biographie über Rudi Dutschke mit „gewachsener Distanz“ neu herausgegeben
Werner Olles

Ulrich Chaussys Buch basiert auf der 1983 erschienenen Biographie „Die drei Leben des Rudi Dutschke“. Der Autor hat „aus gewachsener Distanz eine kritische Sicht auf Dutschkes Politikansatz entwickelt und in den bestehenden Text eingearbeitet“. Beginnend mit der Geburt am 7. März 1940 in Luckenwalde in der Mark Brandenburg, zeichnet er das Porträt eines Menschen, der in einer gläubigen evangelischen Familie aufwächst und aktives Mitglied der Jungen Gemeinde ist. Gegen die Aufforderung, statt Konfirmation an der Jugendweihe teilzunehmen, protestiert Dutschke und setzt sich durch: Er wird konfirmiert und bleibt FDJ-Mitglied. Seine Weigerung sich als Abiturient bei der Nationalen Volksarmee zu verpflichten, sieht die SED als „falschverstandenen Pazifismus“, doch Dutschke stellt dies anders dar: „Ich bekannte mich zur Wiedervereinigung, bekannte mich zum Sozialismus, aber nicht zu dem Sozialismus, wie er betrieben wurde. Ich war nicht bereit in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen, in einer Bürgerkriegsarmee, und zwar in zwei deutschen Staaten, ohne wirkliche Selbständigkeit auf beiden Seiten.“ 

Das Studium an der Hochschule für Sportjournalistik ist damit vertan, er lernt Industriekaufmann. Im Juli 1961 bewirbt er sich für ein Geschichtsstudium an der West-Berliner FU. Am 13. August geht er erstmals aus politischer Empörung auf die Straße. Die Mauer bedeutet: keine Besuche bei den Eltern, den Brüdern, den Freunden, in seiner Heimatstadt. Er läßt sich im Notaufnahmelager Marienfelde als politischer Flüchtling registrieren. 

An der FU wechselt er zur Soziologie und trifft auf Bernd Rabehl, auch ein „DDR-Abhauer“. Sie treffen auf die Gruppe „Subversive Aktion“, bekannt für ihre Happenings und ihre Kritik der Wohlstandsgesellschaft. Frank Böckelmann, Kopf der „Subversiven“, schildert die Begegnung mit Dutschke als „respektvoll, aber schwierig“, da dieser „wenig im Sinn mit unserer Art von Zynismus und unserer Gewohnheit alles mehr oder weniger spielerisch anzugehen hatte. Von ihm ging so etwas Strenges, Düsteres und gleichzeitig Entschlossenes aus. Dutschke wollte zu Marx zurückkehren, zu einem Marx-Bild, unverdeckt und unverfälscht von den ganzen Verstümmelungen und Pervertierungen.“ 1963 wird mit Eberhard Diepgen ein Mitglied einer schlagenden Verbindung zum AStA-Vorsitzenden gewählt. Nach heftigen Protesten wird er wieder abgewählt. Unerwähnt bleibt, daß Dutschke mit der Parole „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ argumentiert. Ein seltsames Argument, da er sonst Rosa Luxemburgs „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ vorzieht.

Anfang 1965 schließen sich Rabehl und Dutschke dem SDS an, der am Kurfürstendamm in einem ramponierten Gründerzeitgebäude residiert, der Eingang ist ein massives Steinportal, besetzt von einem gewaltigen steinernen Adler, der im Dritten Reich das „Stabshauptamt beim Reichskommissar für die Befestigung Deutschen Volkstums“ bewachte. Von der Parteidisziplin der SPD befreit, demonstriert der SDS gegen den „rassistischen“ Jacopetti-Film „Africa Addio“, die Vorstellung wird gesprengt, SDS-Mitglieder lassen Mäuse frei. Wen dies an Arnold Bronnens und Joseph Goebbels „Weiße-Mäuse-Aktion“ gegen den Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ im Berliner „Metropol“ erinnert, liegt nicht ganz falsch. 

Es folgen Demonstrationen gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967, den Vietnam-Krieg, die Springer-Presse. Dutschke avanciert zum SDS-Sprecher und Medien- und Popstar der 68er-Bewegung. Er hat nichts dagegen, daß die FDJ dem SDS 5.000 Mark spendet. In einem Interview mit Günter Gaus fällt der legendäre Satz: „Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt.“ Eschatologische Illusionen der Brüderlichkeit, während Dutschke die Opfer der Kulturrevolution in China mit über drei Millionen Ermordeten ignoriert. 

Den Anschlag auf ihn am 11. April 1968 schildert Chaussy minutiös. Sein Protokoll der Therapie des Schwerverletzten liest sich ebenso berührend wie der Briefwechsel zwischen Dutschke und dem Attentäter Josef Bachmann. Dessen Suizid löst bei Rudi echte Trauer aus, er hätte sich „mehr um ihn kümmern sollen“. Mitte 1974 wird Dutschke zum Dr. phil. promoviert. Die Dissertation erscheint unter dem Titel „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ als Buch. Die Rezensionen sind respektvoll, nur Günter Maschke kritisiert das Buch unter dem launigen Titel „Versuch, Lenin aufs Kreuz zu legen“ scharf. 

Chaussys Biographie endet mit Dutschkes Einstieg bei den Grünen. Er spricht sich für Bündnisse „mit allen Kräften, die in der Tradition der bürgerlichen Revolution, in christlichen Traditionen sich bewegen“ aus. Den Sieg der K-Gruppen-Funktionäre und der politischen Opportunisten, die die konservativen Kräfte hinausdrängen, erlebt er nicht mehr. Bei einem epileptischen Anfall am 24. Dezember 1979 ertrinkt er in der Badewanne. 

In seinem Epilog kritisiert Chaussy, daß sein Freund Bernd Rabehl 1998 mit einer Rede vor der Burschenschaft Danubia „höchst unbefugt den überzeugten Internationalisten Rudi Dutschke gleich mitnahm“. Rabehls Einlassung, die „Nationalrevolutionäre“ Dutschke und er selbst gehörten „zu keinem Zeitpunkt zur traditionellen Linken“ ist berechtigt, obgleich die nationale Frage nur bei den „DDR-Abhauern“ im Vordergrund stand. 

Sieht man von derartigen Fehldeutungen ab, ist Chaussys Buch über Rudi Dutschke eine lohnende Lektüre.

Ulrich Chaussy: Rudi Dutschke. Die Biographie. Droemer Verlag, München 2018, gebunden, 527 Seiten, Abbildungen, 26,99 Euro