© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Marx’ teleologisch-eschatologisches Weltbild
Der fröhliche Dilettantismus
Jost Bauch

Gerne unterscheidet man bei der Einschätzung von Karl Marx den „frühen“ Marx vom „reifen Marx“, der sich als Vollendung seiner Lebensleistung der Kritik der politischen Ökonomie widmete. Eine solche Unterscheidung ist indes zu statisch. Wir halten es lieber mit Karl Korsch, der die Entwicklung des Marxschen Denkens als Abfolge von Kritiken deutete: Von der philosophischen Religionskritik kam Marx zur soziologischen Kritik der Philosophie, von dort zur Kritik der politischen Ökonomie zu den ökonomisch vermittelten politischen Verhältnissen seiner Zeit. Das waren keine separierbaren Abschnitte – Marx denkt zirkulär und dialektisch. Die eine Kritik ist in der anderen „aufgehoben“, ja sie sind sich gegenseitig Voraussetzung.

Verbindungselement aller Kritiken ist ein utopisches Motiv, das wohl in Marx’ jüdischen Wurzeln und der Christianisierung seiner Familie zu suchen ist. Eschatologisch sucht er einen gesellschaftlichen Endzustand, in dem der Mensch aus dem Zustand der Entfremdung und Selbstentfremdung in ein Reich der Freiheit fortschreitet, wo die Menschen die Naturkräfte und die selbstgeschaffenen gesellschaftlichen Kräfte beherrschen können. Er nennt diesen Zustand Kommunismus. Das aus dem deutschen Idealismus stammende Motiv der Aufhebung der Entfremdung bleibt bei Marx in allen seinen Schaffensphasen präsent. So bestimmt es auch seine gesamten politökonomischen Studien, in denen es darum geht, die Verdinglichung der Sozialbeziehungen durch die kapitalistischen Verhältnisse, wo der Tauschwert, der Warencharakter und der Profit zum Herrscher über das menschliche Dasein werden, aufzuheben. Der Sozialismus als Aufhebung jeglicher Entfremdung bedeute, so Friedrich Engels, „das Ende der menschlichen Vorgeschichte und den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“.

Trotz dieses ideologisch geprägten Hintergrundes gelingt es Marx, politökonomische Studien vorzulegen, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben, ja, die wesentlich die Phänomene des heutigen globalisierten Turbokapitalismus erklären können. So kommt Marx im Gefolge seiner politökonomischen Studien im „Kapital“ zu der Erkenntnis, daß es ein „der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz“, ein Gesetz der „relativen Überbevölkerung“ gebe („Kapital“, Bd. I). Die Populationsfrage hänge mit den Gesetzen der kapitalistischen Akkumulation zusammen. Diese führen zur Entstehung des Weltmarktes und zur Globalisierung der Produktion. „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen.“

Entsprechend der Internationalisierung der Produktion brauche der Kapitalismus über Ländergrenzen hinweg „disponible“ Menschenmassen, eine „industrielle Reservearmee“. Diese kann, wenn sich die Zentren der profitablen Produktion verschieben, sofort „und ohne Abbruch der Produktionsleiter in anderen Sphären auf die entscheidenden Punkte werfbar sein“ (ebd.). Diese Menschenmassen sind bei globalisierter Produktion aber nicht mehr in den Grenzen des Nationalstaates rekrutierbar. „Der kapitalistischen Produktion genügt keineswegs das Quantum disponibler Arbeitskraft, welches der natürliche Zuwachs der Bevölkerung liefert. Sie bedarf zu ihrem freien Spiel einer von dieser Naturschranke unabhängigen industriellen Reservearmee“ (ebd.).

Auch die Arbeitskraft ist im Kapitalismus eine Ware, und je mehr davon auf dem Markt ist, desto billiger ist sie zu haben. Die kapitalistische Produktion produziert dabei automatisch ihre industrielle Reservearmee. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, und der Preis der Ware Arbeitskraft sinkt. Diese Pauperisierung weiter Teile der Arbeiterschaft führe dann zusammen mit dem Wachstum des konstanten Kapitals zu „Überproduktionskrisen“, weil die Kapitalisten auf ihren Produkten sitzenblieben, da sie keiner erwerben könne. Arbeitslosigkeit und Arbeitskraftangebot stiegen weiter. Hier liegt der Kern der Marxschen „Verelendungstheorie“. Marx braucht diese Theorie, weil er nur so den Nachweis führen kann, daß der Arbeiter gar nicht anders könne, als sich zu erheben, um den Sozialismus einzuführen. Der Sieg des Sozialismus sei so wissenschaftlich erwiesen, der Kommunismus erweise sich als „wissenschaftliche Weltanschauung“.

Die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise steuern eben nicht blind und automatisch auf totale Verelendung und damit auf die Unausweichlichkeit des Sozialismus zu. Marx hat seinen schweren logischen Fehler erkannt, aber nie eingestanden.

Doch wie Franz Borkenau in seiner glänzenden Analyse des Marxismus aus dem Jahre 1956 nachwies, begeht Marx an dieser Stelle (um die Notwendigkeit des Sozialismus nachzuweisen) einen schweren logischen Fehler. Diesen Fehler hat er später durchaus erkannt, aber niemals eingestanden. Denn die Pauperisierung und die Überproduktionskrisen durch die Produktivitätsfortschritte des konstanten Kapitals können auch und gerade im Kapitalismus dadurch aufgehalten werden, daß die Produktion von Konsumgütern durch die Produktion von Produktionsgütern ersetzt wird. „Die Anpassung der Produktion an eine starke Einkommensdifferenzierung, ja an wirkliches Massenelend, besteht also einfach darin, daß der Anteil der Produktionsgüter (des ‘konstanten Kapitals c’) an der Gesamtproduktion sich steigern kann, was dann seinerseits, auf dem Umweg über die Verbilligung der Produktion, wieder zur Verminderung des Elends und zu günstigerer Verteilung des Einkommens (das heißt der Reallöhne oder, in Marx’ Ausdrucksweise, des ‘variablen Kapitals v’) beiträgt“ (Borkenau). Durch diesen Effekt können sich die Lebenshaltungskosten der Arbeiter verbilligen.

Die nachgelassenen Berechnungen von Marx über das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital, als Band 2 des „Kapitals“ herausgegeben, bestätigen, daß er von diesem Fehler gewußt hat. Doch diese Forschungen blieben Fragment, sie sind auf die „ihm dämmernde Erkenntnis zurückzuführen, daß sie seine Theorie erschütterten, sowie auf die vergeblichen Bemühungen, diese dennoch zu halten und zu entwickeln. Die Katastrophentheorie seiner Jugend hat Marx nicht nur niemals widerrufen, sondern erst im Alter aus ihnen die radikalsten Forderungen entwickelt“ (Borkenau). Die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise steuern so eben nicht blind und automatisch auf totale Verelendung und damit auf die Unausweichlichkeit des Sozialismus zu. Im übrigen hat Marx auch den Einfluß der Gewerkschaftsbewegung und die politischen Kompensationsmechanismen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates nicht gesehen und wohl auch zu seiner Zeit nicht sehen können.

Marx setzte alle seine Hoffnungen auf das Proletariat. Das war für ihn die schöpferische Klasse, die alleine den gesellschaftlichen Reichtum produziert. Diese Vorstellung hängt mit seiner „objektivistischen“ Werttheorie zusammen. In Anlehnung an den englischen Nationalökonomen David Ricardo bestimmt Marx den Wert einer Ware über das Quantum der in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Typisch für den Kapitalismus ist, daß der Arbeiter in der Produktion mehr Wert herstellt, als er als Lohn für seine Arbeit zurückbekommt. Diese Differenz, diesen „Mehrwert“ steckt der Kapitalist ein und begründet damit seine Profite.

Trotz aller vermeintlicher „Wissenschaftlichkeit“ des Sozialismus wurden Marx und Engels nicht müde, die Utopie des Kommunismus zu skizzieren. Und da sind der Phantasie der beiden keine Grenzen gesetzt: Die Welt besteht auf einmal aus Engeln.

Gegenüber dieser Kostenwertlehre, welche die Preisbildung und den Wert einer Ware über die Arbeit und Herstellungskosten herleitet, wurde von der „bürgerlichen Ökonomie“ immer wieder und überzeugend eingewendet, daß sich der Wert einer Ware alleine über subjektive, individuelle Wertschätzungen ergibt. Was nützt alle in der Ware geronnene Arbeit, wenn das Produkt auf dem Markt nicht verkauft werden kann? Insbesondere die Österreichische Schule der Nationalökonomie um Carl Menger hat mit ihrer Grenznutzenlehre, wonach der Wert eines Gutes durch die subjektive Wertschätzung seiner jeweils letzten Einheit („Grenzeinheit“) bestimmt wird, dem Marxschen Werte-Objektivismus auf das Heftigste widersprochen. Die Wert- und die Verelendungstheorie erweisen sich somit als elementare Schwachstellen der Marxschen Theoriearchitektur.

Mit dem Brüchigwerden der Verelendungstheorie verliert die Marxsche Herleitung des Sozialismus ihren „wissenschaftlichen“ Charakter. Denn wenn sich das Proletariat aus existentiellen Gründen nicht zwangsläufig erheben muß, so werden kapitalistisch-sozialistische Misch- und Übergangsformen (wie die Soziale Marktwirtschaft ) denkbar – die große Revolution kann durch Reformen ersetzt werden.

Dies entsprach aber nicht dem Marxschen teleologisch-eschatologischen Weltbild. Wie Franz Borkenau nachwies, hat Marx seiner eschatologischen Revolutionsrhetorik seinen Realitätssinn geopfert. Die Marxsche Utopie stellt ein „Weltdrama“ in fünf Schritten dar. Es beginnt alles mit dem „Urkommunismus“, einer Zeit völliger gesellschaftlicher Harmonie. Mit der Einführung des Privateigentums und später des Kapitalismus kommt die Zeit der Verderbnis, darauf folgt die Zeit der sozialistischen Revolution, die „Diktatur des Proletariats“, die das neue Paradies, die Zeit des vollendeten Kommunismus einleitet. Obwohl Marx mit dem Judentum seiner Zeit radikal gebrochen hatte, so finden wir dieses Fünfer-Schema als Muster der alttestamentarischen Prophetie wieder. Im Endparadies bei Jesaia liegt der Löwe neben dem Lamm.

Und so finden wir bei Marx die eigentümliche Konstellation vor, daß sein (durchaus scharfer) Realitätssinn, zum Beispiel in der politischen Ökonomie, über ein Netz und Grundmuster jüdisch-christlicher Erlösungsmetaphysik gespannt ist. Marx ging tatsächlich in großer Naivität davon aus, daß Technik und Wissenschaft, wenn nur die privatkapitalistischen Aneignungsformen den gesellschaftlich kollektiven Produktionsverhältnissen im Sozialismus angepaßt werden, ein Paradies auf Erden schaffen können.

So werden er und sein Mitstreiter Friedrich Engels trotz aller vermeintlicher „Wissenschaftlichkeit“ ihres Sozialismus nicht müde, die Utopie des Kommunismus zu skizzieren. Und da sind der Phantasie der beiden keine Grenzen gesetzt. Die Welt besteht auf einmal aus Engeln, weil jeder mit Nachdruck seine Fähigkeiten einbringt, aber nur das Nötigste zur Befriedigung seiner Bedürfnisse einfordert. Natürlich wird unter diesen Umständen jede Rechtsordnung überflüssig, der Staat als Überbau der Klassenherrschaft stirbt ab, überhaupt verwandelt sich nach Engels die gesellschaftliche Ordnung aus einer Herrschaft über Menschen in eine Verwaltung von Sachen. Politik wird letztlich überflüssig, weil es keine Macht mehr gibt, die Menschen über Menschen ausüben. An Stelle dessen entwickelt sich die „freie Assoziation“, die Gesellschaft selbst wird amorph, sie entwickelt sich zu einer fluiden, kontur- und institutionslosen permanenten Selbstorganisation. Alle Widersprüche fallen zusammen, ergeben eine „coincidentia oppositorum“ – die Gesellschaft vereint und eint alle Widersprüche.

Auch der einzelne tritt in ein grenzenloses Reich der Freiheit. Jegliche Form der Arbeitsteilung hat ein Ende, die Trennung von Kopf- und Handarbeit wird aufgehoben. Es stirbt jegliche spezialisierte Berufstätigkeit. Die Gesellschaft regelt die allgemeine Produktion und macht es möglich, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx u. a., „Die deutsche Ideologie“). Der Kommunismus erweist sich als fröhlicher Dilettantismus.

Dabei zeigt sich: Je blumiger und paradiesischer die Utopie, desto grausamer werden die Versuche, diese paradiesischen Umstände in Wirklichkeit umzusetzen. Denn wenn sich in der Revolutionierung der Gegenwart diese paradiesischen Umstände nicht unmittelbar einstellen, dann müssen mit noch mehr Zwang, Herrschaft und Terror diese Umstände herbeigezwungen werden. Der reale Sozialismus hat davon genug Auskunft gegeben.





Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Hartz IV und soziale Gerechtigkeit („Relativ gesehen“, JF 15/18).

Foto: Marx-Silhouette: Schemenhaft-phantastisches Weltdrama in fünf Schritten ohne Rücksicht auf den Menschen