© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Knapp daneben
Goldener Herbst der Arbeitswelt
Karl Heinzen

Die Distanzen, die Arbeitnehmer auf ihrem Weg zum Betrieb zurücklegen, werden immer länger. 8,7 Kilometer waren es, wie einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu entnehmen ist, durchschnittlich im Jahr 2000. 2014 maß man bereits 10,5 Kilometer. Die gewachsene Mobilität ist auch deshalb so beachtlich, weil die Erosion der Verkehrsinfrastruktur im gleichen Zeitraum rasant fortgeschritten ist. Berufspendler müssen selbst für unveränderte Wege einen immer höheren Zeitbedarf einkalkulieren, ganz gleich, welches Verkehrsmittel sie nutzen. Wenn sie sogar erheblich längere Strecken in Kauf nehmen, läßt dies nur einen Schluß zu: Ihre Arbeit macht ihnen so viel Spaß, daß sie die Mühe, zu ihr zu gelangen, nicht abschrecken kann. Im Gegenteil: Je größer der räumliche Abstand zwischen Wohnort und Betrieb ist, desto eher scheinen sie daheim auch mental Abstand vom Job gewinnen zu können. 

Darauf sollten wir einen trinken. Wenn es denn noch einen Bus gäbe, der uns zu einer Kneipe fährt.

Wer sozusagen auf Sichtweite zu seinem Unternehmen lebt, hat es schwer, wirklich abzuschalten. Wer jedoch weit weg wohnt, am besten draußen auf dem Land, wo das Internet schwach, das Mobilfunknetz löchrig und ein Spaziergang das einzige Freizeitangebot ist, dort bleibt einem gar nichts anderes übrig, als ganz bei sich selbst zu sein.

Wahrscheinlich ist dies aber bloß der goldene Herbst einer Arbeitswelt, auf die bereits erste Nachrufe zu lesen sind. Schon bald wird es nur noch Selbständige geben, und die Trennung von Arbeit und Wohnen ist überwunden. Im Reinstraum direkt neben dem Bad produzieren wir dann im 3D-Drucker Teile, die eine mit Ökostrom betriebene Drohne abholt und zur nächsten Fertigungsstufe bringt. Oder wir passen am Tablet auf, ob die künstliche Intelligenz in irgendwelchen Anlagen irgendwo auf der Welt einen guten Job macht. Die meisten aber werden ihr bedingungsloses Grundeinkommen einfach so bekommen. Hast du gehört, sagt dann der eine zum anderen, daß man früher für Geld noch arbeiten mußte? Auf den Schreck sollten wir glatt ein veganes Bier trinken, wenn es denn noch einen Bus gäbe, der uns zu einer Kneipe fahren könnte.