© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Die Protokolle der Weisen von Berlin
Verschwörungstheorie: Als Lenin ein deutscher Geheimagent war und Ludendorff sein Führungsoffizier
Jürgen W. Schmidt

Die Historikerin Eva Ingeborg Fleischhauer  hat sich auf die deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert spezialisiert. Der 75jährigen Professorin verdanken wir wichtige Monographien über den Weg zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939, den Widerstand deutscher Diplomaten gegen diesen Pakt oder über die Chancen eines deutsch-russischen Sonderfriedens. 

Ende 2017 ist sie mit einem voluminösen, mit Anmerkungen und Fußnoten gespickten Werk zu einem anderen Kapitel der deutsch-russischen Geschichte angetreten. Die Grundthese jenes Buches ist allerdings derart „steil“, daß Rezensent Manfred Nebelin in der FAZ vom 27. November 2017 kaum Kritik an Fleischhauer wagte, obwohl gerade er in ihrem Buch für seine Ludendorff-Biographie kritisiert wird. Denn in zehnjähriger, mühevoller detektivischer Arbeit hat die Historikerin Fleischhauer nun Ludendorff ebenso wie Lenin „enttarnt“. Glaubte man bislang, daß Ludendorff erstmals 1917 den Namen „Lehnin“(!) hörte und damals aus sehr verständlichen Gründen nichts gegen dessen Reise im „plombierten Waggon“ nach Rußland hatte (JF 15/17), setzt Fleischhauer nunmehr deren persönliche Bekanntschaft und Zusammenarbeit Jahrzehnte früher an. 

Sie fand nämlich die Personalakten Ludendorffs. Dieser hatte von 1890 bis 1893 als angehender Generalstäbler die Berliner Kriegsakademie absolviert und dabei (wie einst auch Hindenburg) mühevoll die russische Sprache erlernt. Anschließend bereiste Ludendorff mit einem militärischen Stipendium drei Monate lang Rußland, um seine Sprachfertigkeiten zu festigen. So etwas war in der preußischen Armee keineswegs ungewöhnlich, und eben erst hat Lukas Grawe in seinem Buch „Deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Weltkrieg“ (Paderborn 2017) derartige Erkundungsmissionen deutscher Offiziere im Auftrag des Generalstabs ausführlich und kenntnisreich untersucht. 

Doch gemäß Fleischhauer besuchte Ludendorff in jenen drei Monaten nicht nur die südrussische Festungsstadt Sewastopol, was verständlich wäre, sondern auch die Stadt Odessa in derselben Region, was Fleischhauer schon viel weniger einleuchtet. Und richtig, kurz nach Ludendorffs Besuch brach hier eine politische Streikbewegung aus. Deren Führer war der „Odessit“ Owschij Nachamkes alias Juri Steklow, später Alt-Bolschewik und fanatischer Lenin-Anhänger. 

In jenem Jahr 1894 begann, so unterstellt zumindest Fleischhauer, die jahrzehntelange, streng geheime und bislang völlig von den Historikern übersehene Zusammenarbeit zwischen den Bolschewiki unter Lenin mit Ludendorff, welche schließlich zur russischen Revolution von 1917 und zum Sturz der russischen, später auch der deutschen Monarchie führte. Daß der standesbewußte, steife Ludendorff gar nicht so gut Russisch beherrschte und im Zarenreich recht menschenscheu agierte, aber gemäß den Vermutungen von Fleischhauer angeblich nicht davor zurückschreckte mit einem eher einflußlosen Odessaer Juden anzubändeln und politische Ränke zu schmieden, daran läßt das Buch keinen Zweifel. Nur fehlen hier, wie auch späterhin meist für die aufgestellten Behauptungen, die dokumentarischen Beweise, und werden folglich durch Vermutungen, Unterstellungen und mitunter durch recht geistvolle Konjunktionen ersetzt, was aber nichts daran ändert, daß das Buch trotz seiner zahlreichen Fußnoten der eigentlichen dokumentarischen Beweislast entbehrt. 

„Innerer Krieg“ im Auftrag des deutschen Generalstabs

De facto ist das Buch auf Vermutungen in Verbindung mit vielen fachlichen Fehlern vor allem auf militärischem Gebiet aufgebaut. So hat gemäß Fleischhauer der russische Generalstab vor dem Kriegsausbruch 1904 verkannt, daß der deutsche Generalmajor Georg Maercker die japanischen Streitkräfte nach dem deutschen Beispiel modernisierte. Das konnten die Russen allerdings gar nicht erkennen, weil es sich in Wirklichkeit um den deutschen General Georg Meckel handelte. Sehr ausführlich geht die Historikerin auf die Rolle Lenins während der ersten russischen Revolution von 1905 ein, die ihrer Ansicht nach weniger eine Revolution als vielmehr der Beginn des „inneren Kriegs“ von Lenin gegen Rußland im Auftrag des deutschen Generalstabs war. 1905 leistete Lenin angeblich zusätzlich im Auftrag des Oberst Akaschi vom japanischen Geheimdienst zersetzende Propaganda gegenüber Rußland. Die sogenannte „Akaschi-Mission“ ist indessen lange bekannt und gerade in den letzten zwei Jahrzehnten schrieb man in Rußland viel darüber. Nur setzte Akaschi damals weniger auf die damals noch politisch relativ unbedeutenden Bolschewiki, sondern sehr viel mehr auf die nationalen Minderheiten (Polen, Finnen) im Zarenreich, welche nach Unabhängigkeit drängten. 

Arg daneben gegriffen dürfte es sein, dem damaligen Siemens-Konzern nachrichtendienstliche Arbeit gegen Rußland zu unterstellen und ebenso der bekannten Nähmaschinenfirma Singer, welche in Rußland ein weitgespanntes Vertriebsnetz besaß. Singer war übrigens, auch wenn viele sie für ein deutsches Unternehmen hielten, ureigentlich eine US-amerikanische Firma. 

Recht verwirrend wird das ganze Verschwörungstreiben um Ludendorff und Lenin, wenn sich Fleischhauer in die geheimdienstlichen Netze in Rußland und Deutschland verirrt. Einerseits war gemäß Fleischhauer die zaristische Geheimpolizei Ochrana tief von den Bolschewiki des im deutschen Solde stehenden Lenin unterwandert. Andererseits standen führende Bolschewiki als langjährige Geheimagenten im Solde der Ochrana, wie der deshalb 1918 erschossene, frühere bolschewistische Duma-Abgeordnete Roman Malinowskij. 

Selbst die alte Mär von dem „deutschen Agenten“ Rasputin wird im Buch wieder aufgewärmt, der unter anderem 1916 für den Tod des englischen Kriegsministers Kitchener verantwortlich zeichnete, da Rasputin dem deutschen Geheimdienst dessen bevorstehende Reise nach Rußland meldete. Aber angenommen, das träfe wirklich zu: Wer hätte wissen können, wann genau und mit welchem britischen Schiff Kitchener in See stach? Dessen exakte Fahrtroute hätte dann rechtzeitig ein deutsches U-Boot mit Seeminen verseuchen müssen – das sind doch allzu viele Unwägbarkeiten. 

So zeugt das Buch leider nur vom großen Irrtum einer um die Erforschung der deutsch-russischen Beziehungen ansonsten sehr verdienten Historikerin. 

Eva Fleischhauer: Die Russische Revolution – Lenin und Ludendorff (1905–1917). Edition Winterwork, Borsdorf 2017, gebunden, 888 Seiten, Abbildungen, 64,90 Euro