© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Geschichtsphilosophie im Hindenburgstil
„Kurz, klar, römisch“: Vor hundert Jahren erschien Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
Wolfgang Müller

Am 20. April 1918, Ludendorffs letzte Offensive wälzt sich scheinbar unaufhaltsam Richtung Paris, schreibt der wegen eines Herzleidens vom Kriegsdienst befreite Münchner Privatgelehrte Oswald Spengler einem Freund: „Ich erhalte soeben – endlich! – die ersten Exemplare des Buches und sende Ihnen sogleich das Ihre zu. Lesen Sie es langsam!“

Das Buch – das war der erste, 600 Seiten dicke Band von „Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“. Seit 1911 hatte Spengler daran gearbeitet, in einem ständig von Depressionen und Suizidneigungen gestörten Schaffensrausch, den Büchernachschub in prallen Rucksäcken aus der Bayerischen Staatsbibliothek zur Schreibtischgaleere schleppend, dem „täglichen Folterinstrument“ in Form eines Bügeltisches, der in der Schwabinger Agnesstraße 54 stand.

Geschichte als Strom ewigen Entstehens und Vergehens

Ungeachtet aller Selbstzweifel verlor der Autor nie die Gewißheit, ein epochemachendes Werk zu schreiben. Was der Erfolg bestätigte, der kriegsbedingt zwar erst im Herbst 1918 einsetzte, der ihn dann aber schlagartig in die erste Reihe europäischer Kulturgrößen und in den Rang eines Praeceptor Germaniae katapultierte. Die 42. Auflage war erreicht, als 1922 der voluminöse zweite Band („Welthistorische Perspektiven“) folgte. 

Eine solche gewaltige Resonanz erstaunt, weil das Werk nicht nur, wie von Spengler empfohlen, langsam, sondern mehrmals gelesen werden muß. Es verlangt, obwohl pointenreich und sentenziös im „Hindenburgstil“ („kurz, klar, römisch“ – „kein Wort zuviel“) gehalten, viel Zeit, Geduld, Vorwissen, geistige Anstrengung. Daß es trotzdem ein Kassenschlager wurde, erklärt sich primär aus seinem suggestiven Titel, der nach dem Zusammenbruch der von Europa beherrschten Weltordnung versprach, alles Gewesene neu zu denken, daraus Klarheit und Orientierung über die zukünftige Entwicklung der Menschheit zu gewinnen.  

Die Wirkung des „Untergangs“ schien also an den erhöhten Deutungsbedarf gebunden, den die Konvulsionen des „Zeitalters der Extreme“ generierten. Kein Wunder, daß der 1936 verstorbene Welterklärer Spengler im Gartenlauben-idyll der verschweizerten Bonner Republik kaum mehr als ein Name war. 1980, zum 100. Geburtstag, konnte Hermann Lübbe daher als Fazit einer erquicklichen Relektüre („unmöglich, nicht gefesselt zu sein“) resümieren, daß gleichwohl die Zeit, in der es möglich war, „so zu denken und zu schreiben und damit Erfolg zu haben, weit weg und vorbei ist“. Seit dem Umbruch von 1989 gilt dieser Befund nicht mehr. 

Zumindest in China, Rußland und den USA nicht, den Hauptkonkurrenten im geopolitischen Machtspiel um die „Neue Weltordnung“, das die Spengler-Konjunktur wieder anheizt. Während sie im wiedervereinigten Deutschland ausgeblieben ist, weil sich dessen Eliten beharrlich weigern, den „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann) zu vernehmen. Deren Mentalität und Geistesverfassung bleiben bis heute vom Willen zu nationaler Selbstaufgabe geprägt, deren Sonderweg-Politik folgt einem illusionär kosmopolitischen Humanitarismus. Mit noch größerem Befremden als Hermann Lübbe begegnen diese Elitenkohorten darum einem Philosophen, der wie Heraklit darin verpflichtet ist, daß er Geschichte als Strom ewigen Entstehens und Vergehens begreift (panta rhei: „Alles ist im Fluß“) und der den „Krieg“, den nie aufzuhebenden Widerstreit der Gegensätze, als „Vater und König“ dieses Flusses versteht. 

Von keinem liberalen oder sozialistischen Fortschrittsglauben angekränkelt, antwortete der die „universale Moral“ verachtende Relativist Spengler einem US-Magazin kurz vor seinem Tode auf die Frage, ob er den Weltfrieden für möglich halte, mit seinem aus einem Satz bestehenden politischen Testament: Sollten die weißen Völker des Krieges müde sein und aus dem Strom der Geschichte aussteigen, dann würde die Welt das Opfer der farbigen Völker werden, „wie das römische Reich den Germanen zufiel“. 

Das sind von einem Jahrhundertautor eröffnete Denk- und Handlungshorizonte, die sich Bewohnern des bundesdeutschen Wolkenkuckucksheims bislang nicht erschließen. Das belegt einmal mehr das erbärmliche Niveau eines Beitrags zur Erinnerung an das Erscheinen des „Untergangs“ vor hundert Jahren. Muß der Geschichtsphilosoph doch bei Dirk Kurbjuweit, einem stellvertretenden Spiegel-Chefredakteur, erst auf jenes Nanoformat schrumpfen, das auch diesem Zögling einer Journalistenschule den Zugang zum Œuvre eröffnet, indem er Spengler mit „Pegida“ kurzschließt (Der Spiegel, 15/2018). Die Aktualität des „Untergangs“ und der politischen Publizistik bis 1933 meinen derartige „Fanatiker der Jetztzeit“ (Jacob Burckhardt) exklusiv zu erfassen, wenn sie darin nach „Grundlagen rechtsautoritären Denkens“ fahnden.      

Die bestünden in Antidemokratismus und Großstadtfeindschaft. Daß hingegen die Demokratie- und Parlamentarismus-Antipathie Spenglers aus einer Kritik des plutokratischen Kapitalismus (parlamentarische Demokratie sei im Kern Plutokratie, durch „Geld in Bewegung gesetzt“ und gehandhabt) erwächst, wie sie heute wieder nicht nur unter neomarxistischen Globalisierungskritikern en vogue ist, bleibt im neoliberalen Spiegel besser ungesagt. 

Akzeptabler ist es deshalb, Spengler das Defizit der Wirklichkeitsferne zu attestieren, exemplarisch für „Rechtsautoritäre“. Dies unterscheide sie von Linken, die „genau hinschauen, recherchieren, Fakten benennen“. Wäre der „konservative Revolutionär“ nach diesem Rezept verfahren, hätte er etwa die „deutsche Schuld“ am Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingestehen müssen, wie Kurbjuweit mit dem Mut zur Blamage auf Fritz Fischers lange überholten Forschungsstand von 1965 doziert. Ob überhaupt ein solches Pochen auf Faktentreue einem Journalisten gut ansteht, dessen Blatt zur „Willkommenskultur“ mit keiner Desinformation gegeizt hat und das derzeit posaunt, es finde keine Masseneinwanderung statt, ist angesichts satter Auflagenverluste eher zu bezweifeln. Doch „jedes Volk hat die Presse, die es verdient“, wie Hans Magnus Enzensberger bereits 1962 zur „Sprache des Spiegel“ höhnisch feststellte.  

Jenseits solcher, den Ungeist des „Qualitätsjournalismus“ indes treffend  markierenden Dummheiten, ist für bevorstehende Umbrüche zu klären: „Was bleibt von Spengler?“ Einiges, glaubt der emeritierte Berliner Althistoriker Alexander Demandt, der Nestor der Spengler-Forschung („Untergänge des Abendlandes“, Köln 2017). Durchgesetzt habe sich seine vom Eurozentrismus Abschied nehmende Lehre, wonach sich die Welt multipolar in Kulturkreise gliedert, die jedoch als Makro-Organismen nicht so monadisch gegeneinander abgeschlossen seien, wie er, in Verkennung kulturübergreifender Phänomene wie Technik, Religion, Humanität, behauptete. 

Spengler erkannte früh die demographische Sprengkraft

Unbestritten sei auch die Theorie von der abnehmenden kulturellen Potenz in allen Kulturkreisen, die sich folglich jetzt in materialistische „Zivilisationen“ verwandeln. Es spreche zudem einiges dafür, daß die Erde weiter ein Kampfplatz bleibe, so daß sich die ins Fellachentum abgesunkenen Zivilisationen, ganz im Sinne des Spenglerianers Samuel Huntington („Clash of Civilizations“), nie in der One-World einer Weltzivilisation zusammenfinden. Zutreffend prognostiziert habe er die „farbige Weltrevolution“, den Konflikt zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Wobei er zwar die dramatischen Details des Prozesses nicht vorhersah, aber dessen durch Überbevölkerung und „Wanderungen“ gezeichnete Grundstruktur entwarf.     

So glaubte er 1933 („Jahre der Entscheidung“), die „farbige Weltrevolution“ ginge vom asiatischen Rußland, von China und Japan als deren Speerspitzen aus. Die in Afrika entstehende Gefahr für das Abendland stufte er zunächst als nachrangig ein. Wobei er unentschieden ließ, worin sie bestehen könnte. Obwohl zu seiner Zeit völlig abwegig, hielt er langfristig Afrikas Sprung in die Moderne nicht für unmöglich, mitsamt der Ausbildung einer neuen Hochkultur auf dem Schwarzen Kontinent, die, mit dem militärisch-technologischen Know-how Europas aufgerüstet, kriegerisch nach Norden expandieren könnte.   

Wahrscheinlicher schien ihm, der sich in den 1920ern intensiv mit demographischen Fragen befaßte, eine Völkerwanderung aus Afrika und Vorderasien, deren welthistorisch singulärer Geburtenüberschuß sich in Richtung Europa entladen werde. Eine Befürchtung, die dem Zeitgeist entsprach. Die Rede vom „vernegerten Frankreich“, von dem durch sinkende Geburtenraten provozierten „Einbruch Afrikas“, dem „Konnubium Jonnys mit Marianne“, war auch weit außerhalb völkischer Kreise eine façon de parler. Der Liberale Alfred Weber, Bruder des großen Max, sprach 1925 wie selbstverständlich davon, Frankreich sei kein europäischer Staat mehr, sondern ein europäisch-afrikanisches Reich.

Trotz des nicht nur in der deutschen Presse omnipräsenten Menetekels der von Wirtschaft und Armee geförderten „friedlichen“ französischen Zuwanderungspolitik konnte Spengler sich die „farbige Weltrevolution“ aber nur als gewaltsame Eroberung des alten Kontinents vorstellen. Daß Westeuropas Eliten gleich nach dem Ende des Kalten Krieges, kaum sechzig Jahre nach seinem Tod, damit beginnen würden, die ethnische Substanz ihrer Völker durch Masseneinwanderung zu zersetzen und damit de facto Vorkehrungen für einen zweiten, die abendländische Kultur diesmal rückstandslos entsorgenden „kalten“ Völkermord zu treffen – um dies vorauszusehen, dazu reichte, wie Alexander Demandt indigniert einräumt, auch die legendäre „seherische Intuition“ eines Untergangs-Propheten nicht aus, der sich im ersten Satz seines Monumentalwerks anheischig macht, „Geschichte vorauszubestimmen“. 

Alexander Demandt: Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Spengler. Böhlau Verlag, Köln 2017, gebunden, 225 Seiten, 30 Euro