© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Achtundsechziger-Revolte
Weder Maß noch Moral
Günter Zehm

Vom jungen Karl Marx, dem noch stark von Hegel und Feuerbach geprägten, später so folgenreichen Sozial- und Revolutions-Ideologen, stammt der Begriff von den „heroischen Illusionen“. Historische Täter, so Marx, müßten sich, um öffentlich auffällig zu werden und ihre Ziele (und sich selbst) durchsetzen zu können, unabwendbar der „heroischen Illusion“ hingeben, also Täuschung verbreiten, die zum guten Teil auch Selbsttäuschung sei. Es seien in der Regel keine frechen Lügner, sondern „Idealisten“; ihr Wort künde von edlen Sachen, was aber am Ende herauskomme, sei die pure Banalität.

Marx demonstrierte seine Theorie am Beispiel der französischen Revolutionäre von 1789, den „Käsehändlern“, wie er sich ausdrückte, Mittelstand und Kleinbürger. Sie wollten ihren Reden zufolge „die Welt befreien“, ein „Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufrichten“, in Wirklichkeit sei es aber nur um die staatliche Erlaubnis gegangen, für ihren Käseladen einige weitere Schaufenster eröffnen zu dürfen – was sie am Ende ja auch erreicht hätten, nach Guillotine, Völkertumult und napoleonischen Kriegen.

Vielleicht wäre es heute an der Zeit, einmal die Taten, Erfolge und Illusionen unserer Achtundsechziger unter dem jungmarxschen Okular etwas genauer zu betrachten. Ihrer wird ja in diesem fünfzigsten Jahresjubiläum in sämtlichen Medien derart dröhnend und umfänglich gedacht, daß man glauben könnte, hier würde ein historisch ungeheures, ja geradezu welthistorisch bedeutsames Ereignis wiedererinnert. Seine Protagonisten werden bis hinab zum letzten Mitläufer in gründlichster Ausführlichkeit ausgeleuchtet, so als handle es sich um Heiligenfiguren von höchster Gelehrsamkeit und tiefster Menschenfreundlichkeit.

Dabei wäre (in der Optik von Marx) zunächst festzustellen, daß es sich bei allen Beteiligten nicht einmal um erfolgreiche Käsehändler gehandelt hat, daß ihre Illusion von der bevorstehenden Weltbefreiung auch nicht die geringste reale Unterlage gehabt hat. Der von ihnen bis aufs Messer bekämpfte Kapitalismus ist seit 1968 in unglaublicher Weise aufgeblüht und hat mittlerweile auch die ehemaligen, zu 68er-Zeiten noch kommunistischen Staaten vereinnahmt, einschließlich der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung.

Westdeutsche Großintellektuelle wie etwa Hans Magnus Enzensberger haben trotzdem die Mär verbreitet, erst das Erscheinen und die Aktivitäten der Achtundsechziger hätten die Bundesrepublik Deutschland zu einer „wahrhaft demokratischen Gesellschaft“ gemacht, vorher habe es nur „Nazischeiße“ und „Obrigkeitsstaat“ gegeben. Gleich mehrmals bekräftigte er das 1995 in einem großen Interview mit der Zeit. Die Studentenrevolte habe die Bundesrepublik Deutschland „überhaupt erst bewohnbar gemacht. Davor war sie unbewohnbar (…)  Die Studentenrevolte war zivilisatorisch eine Notwendigkeit. Dazu stehe ich nach wie vor“, so Enzensberger.

Unzählige Institutionen wurden „umfunktioniert“ oder gleich vollständig kaputtgemacht. Man macht sich heute kaum noch eine Vorstellung von der Absurdität der Rituale und marxistischen Sprachbilder, die anno ‘68 ins deutsche Geistesleben einbrachen. 

Dabei hatte er vorher im selben Interview bekräftigt, daß die ganze 68er-Rhetorik von oben bis unten „natürlich Quatsch“ gewesen sei, er habe „Phrasen gedroschen wie alle anderen auch“. Was er nicht sagte, war die Tatsache, daß es just jener Quatsch und jene Phrasen der Achtundsechziger waren, die Ereignisse nach sich zogen, die weite Teile der Bundesrepublik zeitweise an den Rand der Unbewohnbarkeit brachten. Man beließ es ja nicht bei Phrasen, sondern schritt umgehend zur terroristischen Tat. Eine Weile beschränkte man sich dabei noch auf „Gewalt gegen Sachen“, aber schnell verwischten sich die Grenzen und es folgte die Gewalt gegen Personen, denn diese, sofern mißliebig, seien ja lediglich „Charaktermasken“, wie es bei den Sit-ins und Teach-ins hieß, die man getrost zerstören, das heißt demütigen, anspucken, verprügeln, töten dürfe.

Unzählige Institutionen wurden damals „umfunktioniert“ oder gleich vollständig kaputtgemacht: Universitätsinstitute, Kunstvereine, wissenschaftliche Gesellschaften, Verlage. Dozenten und Multiplikatoren wurden, sofern sie sich nicht dem Jargon der Quatschköpfe und Phrasendrescher anpaßten, von ihren Kathedern vertrieben oder gar in den Wahnsinn gehetzt, wobei es, wie in solchen Fällen üblich, vor allem die Mutigen und Hochqualifizierten traf, darunter manch zurückgekehrten Emigranten, der einst vor den Nationalsozialisten geflüchtet war und nun zum zweitenmal Deutschland in Richtung Amerika verließ.

Man macht sich heute kaum noch eine adäquate Vorstellung von der Absurdität der Rituale und marxistischen Sprachbilder, die anno ‘68 ins deutsche Geistesleben einbrachen. Gottlob kam die Bewegung vor den Fabriktoren zum Stehen, sonst hätten wir im Westen wohl eine zweite „Volksdemokratie“ von der Art der DDR bekommen. Die Arbeiter, die „Harthüte“, zeigten den studentischen Agitatoren die kalte Schulter und ließen sie nicht in die Werkhallen hinein.  Sie und niemand anders retteten damals die alte Bundesrepublik.

Die  Achtundsechziger ihrerseits entblödeten sich nicht, in ihren Schulungen zahllose von der SED im Schulunterricht der DDR verwendete Polit-Lehrbücher zu nutzen und weiterzuempfehlen. Zudem wurden so manche Achtundsechziger Stasi-Agenten und lieferten regelrechte Spitzelberichte aus dem Inneren der Bewegung. Das Ost-Berliner SED-Regime finanzierte auf üppige Weise 68er-Publikationen wie die Zeitschrift Konkret und bot Mördern und Brandstiftern der sogenannten „zweiten Generation“ der RAF, die von der westdeutschen Polizei gesucht wurden, Fluchtmöglichkeit, Unterschlupf und Erholungsaufenthalt unter falschem Namen in verschiedenen Städten der DDR.

Ein wichtiges Moment der Zusammenarbeit zwischen Achtundsechzigern und SED/Stasi bot auch der „gemeinsame antiisraelische Kampf“ und die Unterstützung des damaligen palästinensischen Terrors gegen Israel. Junge Achtundsechziger, die unbedingt mit der Waffe in der Hand gegen den „imperialistischen Klassenfeind“ kämpfen wollten, wurden mit Hilfe der Stasi an  palästinensische Ausbildungslager vermittelt und bekamen dort neben der militärischen Unterweisung auch noch sämtliche Tricks und Hinterhältigkeiten des unerklärten Partisanenkriegs beigebracht. Berichte von Leuten, die dabeiwaren, vermitteln darüber beinahe unglaubliche Einsichten.

Die Publizistin und Ulrike-Meinhof-Tochter Bettina Röhl war es, die  kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel sehr überzeugend darauf hingewiesen hat, daß die deutschen Achtundsechziger nichts weniger waren als eine exklusive, speziell gegen deutsche Verhältnisse protestierende Truppe; sie waren lediglich die deutsche Variante eines Phänomens, das den ganzen demokratischen, wirtschaftlich gerade damals mächtig vorankommenden „Westen“ befallen hatte: „Wohlstandsverwahrlosung“, wie sie es nennt. Auch im übrigen Europa, in den USA oder in Japan gab es solche Bewegungen, und sie waren ortsweise noch sehr viel rabiater als in Westdeutschland.

„Blumenkinderaufstand“ hießen sie in Kalifornien, „Action directe“ in Frankreich, „Rote Brigaden“ in Italien, aber ihr Ziel war in allen Ländern das gleiche: die „Zerschlagung“ teils bürgerlicher, teils uralter kultureller Traditionen, das Wegräumen kultureller Übereinkünfte zugunsten von massenzivilisatorischen „Errungenschaften“. Anti-Vietnam, Vergangenheitsbewältigung, Kampf gegen Notstandsgesetze, gegen Faschismus – alle diese Parolen dienten als Vorwand und Windmacher, um den Furor der Zerschlagung und der Entsublimierung in Gang zu bringen und in Bewegung zu halten.

Axel Springer sah die Achtundsechziger völlig richtig als die andere Seite jenes kommunistischen Staats-Imperialismus, dessen Charakter ihm bei jedem Blick aus den Fenstern seines Berliner Büros direkt an der Mauer tagtäglich vor Augen lag. 

In den gegenwärtigen medialen Beiträgen zum fünfzigsten Jahrestag der 68er-Revolution geht es immer wieder um die angeblich hochgeistigen, hochphilosophischen Wurzeln der Bewegung speziell in Deutschland; man erinnert an die „Frankfurter Schule“, an Theodor W. Adorno. Aber gerade das Schicksal Adornos offenbart sowohl die internationale Weite als auch die geistige Dürftigkeit der Bewegung. Ihre Ur-Impulse lagen nicht in Deutschland, sie kamen vielmehr aus China und aus den USA, wo sich die „Kulturrevolution“ von Anfang an als Abräumaktion zu erkennen gab, als bewußte Abkehr von der Tradition, als planmäßige Vernichtung alteingeschliffener Kulturpraktiken und als flächendeckende Entsublimierung. 

In Deutschland freilich war ihr Einfluß beträchtlich, nachdem sie auch hier einmal Fuß gefaßt hatte. Der psychoanalytisch denunzierende Duktus der Adornoschen Soziologie, ihre Intention, moderne Bürokratie und Profitwirtschaft faktisch mit „Faschismus“ in eins zu setzen und die Abräumaktionen als längst fällige, bisher angeblich vollkommen verdrängte Abrechnung mit den Vätern und ihrer „untilgbaren Schuld“ auszugeben, machte ungeheuer Schule und verschaffte den Achtundsechzigern einen moralischen Feldvorteil, den sie anderswo nicht hatten. Nirgendwo gelang der „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke) so gut wie im Zeichen der Frankfurter Schule – und es war nur konsequent, daß er auch vor dem eigenen Institut nicht haltmachte, ja, gerade dieses aufs Korn nahm und seinen Direktor Adorno (Horkheimer hatte sich rechtzeitig in die Schweiz abgesetzt) in gröbster Weise attackierte und demütigte.

Das Institut wurde besetzt, Adornos Vorlesungen gesprengt beziehungsweise in obszöne Happenings „umfunktioniert“. Die „Kritik“ verwandelte sich selber in Bürokratie und „(Links-)Faschismus“ (Habermas). Statt feinsinniger Musik-Analysen setzte es nur noch „Vollversammlungen“, „Strategiedebatten“, Gewaltaktionen gegen Hochschullehrer, gerade auch gegen liberal oder sozialistisch gesinnte. Adorno floh, nachdem er die Polizei hatte rufen und einen Kriminalprozeß gegen seinen Lieblingsschüler Hans-Jürgen Krahl hatte führen müssen, in den vorgezogenen Semesterurlaub, wo er dann einen Herzinfarkt erlitt, zu Tode gehetzt von seinen eigenen Schülern.

Der erklärte Hauptfeind der Achtundsechziger in Deutschland war der Verleger Axel Springer. Springer seinerseits sah sie – völlig richtig – lediglich als die andere Seite jenes kommunistischen Staats-Imperialismus, dessen Charakter ihm bei jedem Blick aus den Fenstern seines Berliner Büros direkt an der Mauer tagtäglich vor Augen lag. Er hatte nichts dagegen, daß in den von ihm verlegten Blättern Ostflüchtlinge und Dissidenten wie Wladimir Maximow oder Andrej Amalrik ungehindert zu Wort kommen durften und auch über die Taktiken der Achtundsechziger ausführlich und anschaulich geschrieben wurde.

Beides wurde ihm zum Verhängnis. Er wurde regelrecht überzogen mit übelsten Boykottmaßnahmen gegen seine Zeitungen, mit Brandanschlägen und Mordversuchen, die ihm außerordentlich zusetzten und sein Leben wohl verkürzten; die ersehnte Wiedervereinigung erlebte er nicht mehr. Im Grunde erging es ihm ähnlich wie Adorno. Beide waren mit Freunden beziehungsweise Feinden konfrontiert, die kein Maß und keine Moral mehr kannten und sich dennoch für echte Befreiertypen hielten. Hoffentlich ändert sich so etwas bald.






Prof. Dr. Günter Zehm, Jahrgang 1933, Schüler von Ernst Bloch, DDR-Haft wegen „Boykotthetze “, später im Westen Promotion bei Theodor W. Adorno und Carlo Schmid, Honorarprofessor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 1963 bis 1989 arbeitete er im Axel-Springer-Verlag als Feuilletonredakteur und seit 1977 stellvertretender Chefredakteur der Welt. Dort begründete er seine Pankraz-Kolumne, die seit Januar 1995 in der JUNGEN FREIHEIT erscheint.

Foto: Unruhen 1968: Nachdem das Studentenparlament der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main am 27. Mai 1968 „beschlossen“ hatte, die Hochschule in Karl-Marx-Universität umzutaufen, versuchten Gegner der Umbenennung zwei Tage später von einem Fenster aus, den aufgeklebten Schriftzug über dem Haupteingang wieder zu entfernen.