© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

In der Literatur aufbewahrt
Palermo: Zu Besuch am wiederaufgebauten Familiensitz der ehemaligen Lampedusa-Fürsten
Thorsten Hinz

Um sich im engen, lauten Straßengewirr in der Altstadt von Palermo zurechtzufinden, braucht es ein bißchen Einübung. Die Straßenzüge wirken oft morbide, ja schäbig, und erinnern beinahe an die verfallenden Städte der DDR. Doch selbst die bröckelnden Palais verströmen mit ihren ausladenden Portalen, Gesimsen und Balkonen einen enormen Charme. Dazwischen fallen frisch sanierte Bauten und neue Luxusquartiere auf.

Auf der Suche nach dem Oratorium del Rosario, wo die Stuckaturen des Giacomo Serpotta zu bewundern sind, findet man sich in der Via de Lampedusa wieder. Die Tafel an der hellen Wand eines Palazzo informiert darüber, daß es sich um den Sitz der Lampedusa-Fürsten handelte, deren letzter und berühmter Vertreter Giuseppe Tomasi di Lampedusa war, der Verfasser des Romans „Der Gattopardo“ („Der Leopard“), und daß der Palast vor 75 Jahren – exakt am 5. April 1943 – durch Bomben zerstört und von 2011 bis 2015 wiederaufgebaut wurde. Die Fassade wirkt vergleichsweise schlicht. Auch Lampedusa hatte an ihr nichts architektonisch Wertvolles gefunden. Bemerkenswert jedoch fand er die Ausmaße des Familiensitzes: gut 60 Meter in der Länge mit neun Balkonen und zwei Portalen.

Wo ist vergleichbare Prosa zu Ostpreußen?

Heute ist es eine luxuriöse Wohnanlage für über 30 Parteien. Man erwartet eine „Gated Community“, doch eine Pforte im linken Portal steht offen. Das ist offenbar Absicht, denn die Bewohner blicken durchaus wohlwollend auf die Touristen, die in der Eingangsloggia stehen und Satz für Satz den Text übersetzen, der auf den Toreingang zu den Innenhöfen geschrieben ist. Es handelt sich um einen Absatz aus dem autobiographischen Text „Die Stätten meiner frühen Kindheit“, den Lampedusa 1955 verfaßt hatte.

„Ich liebte (das Haus) mit vollkommener Hingabe“, heißt es, „und liebe es noch jetzt, da es seit zwölf Jahren nur eine Erinnerung ist. Bis wenige Monate vor seiner Zerstörung schlief ich in dem Zimmer, in dem ich geboren wurde (…) Und es war mir eine angenehme Vorstellung, daß ich vielleicht einmal in diesem Haus, vielleicht im selben Zimmer sterben würde. Alle anderen Häuser, in denen ich lebte (…), waren Dächer, die dazu dienten, mich vor Regen und Sonne zu schützen, aber nicht Häuser im archaischen, verehrungswürdigen Sinn des Wortes.“

Die Anlage war für ihn ein Kindheitsparadies mit drei Höfen, vier Terrassen, einem Garten, ungeheuren Treppen und Vorsälen. Die Familie samt Großeltern und Onkel verteilte sich über die verschiedenen Flügel des Hauses, in proustscher Manier werden Erinnerungen an Muranoleuchter, reichen Stuck, an den Duft des Parfüms, das die Mutter bevorzugte, heraufbeschworen. In das wiederaufgebaute Ensemble hat man die erhalten gebliebenen Mauern, Säulen und Kuppelreste sorgfältig einbezogen. Zweifellos ist es ein Privileg, hier zu wohnen.

Nun ist der Verlust des Hauses im 20. Jahrhundert in Europa eine millionenfache Erfahrung gewesen, wobei natürlich nur wenige es mit der Pracht des Lampedusa-Hauses aufnehmen konnten.

Unabhängig von der Tatsache, daß der ruinöse Schandfleck, der sich seit 1943 an dieser Stelle auftat, verschwunden ist, kann man sich fragen, ob der Palast den Wiederaufbau nötig hatte. Ob er im „Gattopardo“ nicht viel lebendiger geblieben ist, als die Rekonstruktion ihm an neuem Leben je einhauchen kann. In Lampedusas Roman, postum 1958 bei Feltrinelli erschienen, offenbaren sich die Möglichkeit und die Aufgabe der Kunst, der Zeit und der materiellen Zerstörung zu trotzen. Thomas Mann gelang das mit den „Buddenbrooks“ und Eduard von Keyserling mit den Romanen um die „Abendlichen Häuser“, die das Ende des baltendeutschen Adels antizipierten. Wo aber findet sich eine vergleichbare Prosa, in der die untergegangenen Schlösser und Häuser Ostpreußens oder Schlesiens aufgehoben sind?

Gewiß, es gibt Bildbände und Erinnerungsbücher, die aber die Magie der Kunst nicht ersetzen können. Lampedusa am nächsten gekommen ist wohl Günter Grass mit seinen Danzig-Romanen, auch wenn sie häufig durch das verdorben wurden, was Grass für seine politischen Einsichten hielt.

Lampedusas Roman gibt ein Beispiel, wie zerstörte Materie in äußerster Reinheit in der Literatur aufbewahrt werden kann. Und der neue Lampedusa-Palazzo? Steht er für die Rückverwandlung von Literatur in Materie? Oder nur für ihre profitorientierte Verwertung? Oder für beides? 

Der Versuch einer Synthese: Der Roman – 1963 von Visconti mit Burt Lancaster, Alain Delon und Claudia Cardiunale verfilmt–  ist geniale Literatur und auch ein hintergründiger Kommentar zum wiedererrichteten Palais, das schöner ist als alles, was sonst an dieser Stelle stehen könnte.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopoard. Roman. Piper-Verlag, broschiert, 352 Seiten, 12 Euro