© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Leben in der Vorkriegszeit
Monika Maron spiegelt in dem neuen Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ ihr Unbehagen an der Masseneinwanderung
Thorsten Hinz

Der neue Roman von Monika Maron, „Munin oder Chaos im Kopf“, ist der bisher entschiedenste Versuch in der deutschsprachigen Literatur, die Auswirkungen der Masseneinwanderung und die Ausbreitung des Islam zu erfassen. Zwar hatte der Schweizer Jonas Lüscher im Buch „Frühling der Barbaren“ vor fünf Jahren erzählt, wie eine europäische Hochzeitsgesellschaft, die in der tunesischen Wüste ein rauschendes Fest feiert und durch einen Finanzcrash plötzlich mittellos wird, sich vom Strudel archaischer Gewalt mitreißen läßt. Doch war das eine Novelle, die ein unerhörtes Ereignis vor exotischer Kulisse schilderte, so daß der Leser sie sich vom Leibe halten konnte als ein düsteres Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Marons Roman dagegen erzählt von einem Alltag in Berlin, in dem nichts Besonderes passiert und sich unter der Hand trotzdem Dramatisches vollzieht.

Die Ich-Erzählerin Mina Wolf ist eine geschiedene Journalistin von Ende 40, die in einer ruhigen Berliner Wohnstraße lebt und eine Vorliebe für Gin Tonic hegt. Eine Konstellation, die man so oder ähnlich aus anderen Büchern Marons kennt. Für den Auftrag einer westfälischen Kommune, die Einleitung für die Festschrift zum Jubiläum des Dreißigjährigen Krieges zu verfassen, fühlt sie sich kaum gerüstet, doch aus pekuniären Gründen kommt er ihr gelegen. 

Die Konzentration darauf fällt ihr schwer. Sie meint in der Stadt eine „nervöse, leicht explosive Stimmung“ zu verspüren, ist sich aber unsicher, ob die Wahrnehmung lediglich ihrer Einbildung entspringt. Objektiv sind jedenfalls die Nachrichten über Terroranschläge; über die angeblich stetig wachsende Zahl menschlicher Geschlechter; über die Hunderte Milliarden Schulden, die Gläubiger zurückhaben wollen. Objektiv sind auch die ständigen Belehrungen, warum man seine Gewohnheiten zugunsten muslimischer Neubürger zurückzunehmen hätte. Angesichts solcher chaotischen Normalität erscheint dem Leser das „Chaos im Kopf“ der Erzählerin ganz normal.

Der Frühling bringt keine Stimmungsaufhellung. Die Vorfreude auf die Zwergmargeriten auf dem Balkon wird durch eine walkürenhafte Frau auf der anderen Straßenseite zunichte gemacht, die jeden Tag in der Pose einer Operndiva den Balkon betritt und die beschauliche Straße mit ihrem grausam schlechten Gesang terrorisiert. Später schaltet sie zusätzlich einen Musikrekorder ein. 

Als geistig Behinderte ist sie strafunmündig und steht unter dem besonderen Schutz des Gesetzes. Daher ist es unmöglich, sie wegen Ruhestörung zu belangen oder ihr die Wohnung zu kündigen. Die Erzählerin vermutet eine tragische Lebensgeschichte als Grund der Krankheit: Als Kind sei sie mit Lob und großen Erwartungen bedacht worden, hatte von einer Künstlerkarriere im Opernhaus geträumt und es mangels Talent nur zur Garderobenfrau gebracht. Aus Kummer über den verfehlten Lebenstraum dem Wahn verfallen, nimmt sie nun im Wissen um ihre Unantastbarkeit laute Rache an der Welt. Die Erzählerin aber, um arbeiten zu können, ist gezwungen, den Tag-Nacht-Rhythmus zu vertauschen.

Zweimal wird auf die Herkunft ihres Namens verwiesen: Mina ist ein Schlagerstar aus den 1950er/60er Jahren. Berühmt wurde sie mit dem Lied: „Heißer Sand und ein verlorenes Land / Und ein Leben in Gefahr. / Heißer Sand und die Erinnerung daran, / daß es einmal schöner war.“ Die Eltern hatten 1960 in Süditalien eine Urlaubswoche verbracht, ein Jahr vor dem Mauerbau. Der Name der Tochter sollte die Erinnerung daran aufbewahren.

Wer jedoch den Schlager auf Youtube abruft, wird bemerken, daß er keineswegs von südländischer Unbeschwertheit handelt: Es geht um eine arrangierte Verlobung und eine unglückliche Liebe, um den Mord am zugedachten Ehemann und die Flucht des Geliebten in die Fremdenlegion, um sein Schicksal im Algerienkrieg sowie um eine junge Frau, die als Hafenhure endet und sich den „Boys“ – mutmaßlich den GIs – in die Arme wirft. Kein gutes Omen!

Unterdessen wird die Stimmung immer gereizter. Die falsche Diva wirft mit Blumentöpfen nach ihren genervten Kritikern, im Straßenbild mehren sich die „abweisenden Gesichter der kopftuchtragenden Frauen“, und die Erzählerin stellt sich vor, „wie die Stadt aussehen würde, wenn sie alle erwachsen wären und selbst wieder Kinder hätten“. Die Medien berichten über Enthauptungen durch Islamisten.

Auf einer Bürgerversammlung wird beraten, wie mit der Sängerin zu verfahren sei. Ein Taxifahrer, der durch den Gesang um seinen Tagesschlaf gebracht wird, schimpft: „In diesem Land muß man inzwischen verrückt sein, zu doof oder zu faul zum Arbeiten, nicht Deutsch können, drogenabhängig oder kriminell sein, damit sich jemand mit dir beschäftigt.“ Der Besitzer einer Luxuskarosse widerspricht ihm: Die Leute würden ihren Zorn über alles, was sie nicht ändern könnten, auf die behinderte Frau konzentrieren, und das sei „schäbig“!

Die Altbaubewohner klatschen Beifall, die Bewohner der billigen Nachkriegsbauten verstummen und geben ihrem Unmut Ausdruck, indem sie Deutschlandfahnen hissen. Autoreifen werden zerstochen, Fahrzeuge gehen in Flammen auf. Eine junge Frau wird durch Bewohner eines neuen Flüchtlingsheims beinahe vergewaltigt, ihr Hund wird getötet. Der „molekulare Bürgerkrieg“ (Hans-Magnus Enzensberger) nimmt Fahrt auf.

Mina bändigt ihr inneres Chaos, indem sie die Gegenwart im Modus der Vergangenheit betrachtet. Die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg führt sie zu der Überzeugung, selber in einer „Vorkriegszeit“ mit der Aussicht auf neue Religionskriege zu leben. Intensiv beschäftigt sie das Tagebuch eines Peter Hagendorf, eines schreibkundigen Söldners, der für die katholische Sache focht und seine Erlebnisse 24 Jahre lang akribisch notierte. Sie kennt auch Gunnar Heinsohns „Söhne und Weltmacht“ und hat das Gefühl, daß mit den jungen Einwanderern auch der Krieg, dem sie entflohen sind, nach Deutschland gekommen sei und zieht eine direkte Linie zu den neuen Barbaren: „Peter, Mohamed, Hussein.“ 

Ihr wichtigster Gesprächspartner ist Munin, eine einbeinige Krähe, die ihr zugeflogen ist, benannt nach einem der beiden Vögel auf den Schultern von Odin, dem altgermanischen Gott der Weisheit. Munin besitzt das Weltwissen, das Transzendenzgefühl, das Gefühl für historische Kontinuitäten und Erfahrungsmuster, das den Menschen verlorengegangen ist. Ein Dialog der beiden findet sich gegen Ende des Buches: „Das Paradies ist nichts als eine Sehnsucht, sage ich. Oder eine Erinnerung, sagte Munin, an die Zeit, als ihr noch dazugehört habt.“ Die Bewohner der Straße sind Objekte, keine Handelnden mehr. 

Der Lärmterror endet abrupt und auf spektakuläre Weise. Minas Manuskript wird vom Bürgermeister abgelehnt, weil es zu pessimistisch und düster sei, aber es wird honoriert. Die Zukunft ist offen und unheimlich.

Monika Marons Roman ist nicht perfekt. Mehrere Kritiker haben darauf hingewiesen, daß Bemerkungen zu den Zeitläuften keine Verbindung zur Handlung haben und wie Schnipsel aus Leitartikeln wirken. Doch solche Einwände betreffen bloß Sekundäres. Die Autorin stellt auch in diesem Buch ihre erzählerische Kraft unter Beweis, die sich mit der thematischen Wucht verbindet. So schlägt sie eine Schneise, die auf die Lichtung kollektiver Selbsterkenntnis weist. Andere Autoren müssen sich entscheiden, ob sie Maron folgen oder sich im Dickicht der Illusionen und politischen Mythen verfangen wollen.

Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin 2018, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro