© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

„Ich fürchte, daß meine Kinder hungern werden“
Naher Osten: Die Palästinensergebiete sind erneut in Aufruhr / Es geht nicht nur um Israel, Macht und Ansehen, sondern vor allem um Geld
Marc Zoellner

Ein solcher Protest war selbst für den Gaza-Streifen ungewöhnlich: Dutzende Angestellte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) hatten sich Anfang April in Gaza-Stadt versammelt, um öffentlichkeitswirksam zum Hungerstreik aufzurufen. Sie waren nicht die einzigen, die gekommen waren – zusammen mit Tausenden ihrer Kollegen blockierten sie die Zugänge zu den wichtigsten Bankhäusern der dicht besiedelten Millionenmetropole. „Nein zur Politik der Teilung“, skandierten wütende Demonstranten, und „nein zum Massaker an unseren Gehältern.“

Der Warnschuß der Fatah kam mit langer Ansage

Es waren die ausbleibenden monatlichen Lohnschecks, welche die Menschen auf die Straße trieben. Erstmalig in der Geschichte des bereits elf Jahre währenden Konfliktes der antizionistischen Fatah mit der radikalislamischen Hamas um die Vorherrschaft über die Palästinensergebiete hatte die vom Westjordanland aus die PA dominierende Fatah entschieden, den Geldhahn für den Gaza-Streifen als deutlichen Warnschuß zuzudrehen.

Mit fatalen Folgen: „Ich bin eine Mutter von sechs Halbwaisen“, klagt Maysoon Abu Jumaa im arabischen Sender Al Jazeera. „Jetzt habe ich Furcht, daß meine Kinder hungern werden.“ Umgerechnet gut 500 Euro verdient die von der PA angestellte Naturwissenschaftslehrerin ansonsten im Monat. Im März allerdings betrug ihr Lohn nur noch 50 Euro. Dabei hatte Maysoon noch Glück im Unglück: Den meisten ihrer Kollegen war das Einkommen für den Vormonat komplett gestrichen worden. Wie sie künftig ihre Miete, ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen, läßt viele Palästinenser derzeit vor einem Rätsel stehen.

Dabei kam der Warnschuß der Fatah mit Ansage: Schon nach der Machtübernahme der Hamas während der bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Juni 2007, bei welchen wohl 120 Menschen getötet worden waren, erklärte Fatah-Chef Mahmud Abbas die gut 70.000 Angestellten der PA im Gaza-Streifen für faktisch entlassen, ohne sie jedoch von der Lohnliste der Autonomiebehörde streichen zu wollen. Es war die erste einer ganzen Reihe von Machtproben, in denen Abbas gegen seinen Rivalen Ismail Haniyya unterliegen sollte – und die Abbas nun zum Monatsanfang bewogen hatten, jenen drastischen Gehaltsschritt anzuordnen.

Dabei hatte es vergangenen Herbst noch ausgesehen, als könnten die Differenzen überwunden werden: Unter der Mittlerrolle Ägyptens handelten beide Parteien im Oktober ein „Versöhnungsabkommen“ aus, welches den Gaza-Streifen unter Kontrolle der PA stellen, die 30.000 parallel zu den PA-Angestellten in Gaza arbeitenden Hamas-Mitarbeiter jedoch weiter im Sold belassen sollte. Einzig die Essedin-al-Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der Hamas, galten noch als strittiger Punkt – immerhin gilt der Hamas der bewaffnete Kampf gegen Israel als fundamentaler Bestandteil ihrer Ideologie. Israel und die USA, die beide die Hamas als Terrorgruppe einstufen, erklärten daraufhin, eine Einheitsregierung unter Beteiligung der Radikalislamisten nicht anerkennen zu wollen.

Das „Kairoer Abkommen“ zerbrach im Dezember: Die Hamas kam ihren Zugeständnissen nicht nach. Seitdem liefern sich beide Widersacher ein bizarres Wettrennen um den Fokus der Weltöffentlichkeit, welches allein im Gaza-Streifen bislang über 30 Tote sowie Hunderte Verletzte forderte. Eine „tödliche Waffe gegen Israel“, hatte Haniyya zum Auftakt der Protestmärsche versprochen, sollte jener „Marsch der Millionen“ sein, welchen die Hamas seit Ende März jeden Freitag an der Grenze zu Israel organisiert. Gut 40.000 Teilnehmer zählten die Demonstrationen im Schnitt.

Davon, daß „dieser Protest friedlich und zivilisiert“ verlaufe, wie Haniyya unter einem Monumentalbanner mit den Konterfeis von Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und Martin Luther King propagiert hatte, war allerdings nichts zu spüren: Zwischen brennenden Autoreifen warfen die Hamas-Anhänger während ihres Sturms auf die Grenze Steine und Molotowcocktails auf israelische Sicherheitskräfte, die mit Tränengas und scharfer Munition reagierten. Um die Live-Übertragung der Proteste im Internet zu ermöglichen, hatte die Hamas eigens Wlan-Hotspots eingerichtet – wohlwissend, sich damit in der arabischen Welt als Märtyrer zu inszenieren.

In Sorge darüber, ihre Führungsrolle im palästinensischen Befreiungskampf einzubüßen, rief die Fatah die Abbas-Anhänger im Westjordanland zu Kundgebungen für ihren Präsidenten auf. Wenige hundert folgten allerdings dieser Einladung. Zeitgleich reklamierte die Fatah die Entstehung der Freitagsmärsche für sich – und widersprach der Hamas, die Grenzproteste organisiert zu haben. „Wir von der Fatah hatten die Ehre, den Volkswiderstand in Gang zu setzen“, erklärte Fatah-Sprecher Atef Abu Seif vergangene Woche im Interview mit der Times of Israel. „Die Protestler handeln auf niemandes Befehl.“

Daß Fatah und Hamas sich nach elf Jahren des Bruderzwists und mehrmaligem Scheitern erneut aussöhnen könnten, daran glaubt in den Palästinensergebieten nur noch jeder dritte, wie eine im Vormonat veröffentlichte Umfrage ergab – erst recht nicht nach der Mitte März versuchten Ermordung des Fatah-Premiers Rami Hamdallah während seiner Visite im Gaza-Streifen. Diesen Dienstag trafen in Kairo erstmalig seit dem Anschlag auf Hamdallah die Delegationen der Rivalen zu erneuten Versöhnungsgesprächen zusammen.

Den Parteien geht es nicht nur um Macht und Ansehen, sondern auch um Geld: Allein die Weltentwicklungshilfe in die Palästinensergebiete, hauptsächlich finanziert von den USA, der EU und Saudi-Arabien, beträgt jährlich eine Milliarde Dollar. Finanzen, die gerade im Gaza-Streifen mit einer Arbeitslosenquote von 45 Prozent deutlich fehlen; speziell seit dem Aussetzen der Lohnfortzahlungen durch die PA. „Für uns ist das wie eine weitere Belagerung zu jener, die von den israelischen Besatzern ausgeht“, klagt ein Arbeiter aus Gaza-Stadt. Der Hamas allerdings dürfte diese Belagerung Grund genug sein, sich an künftigen Verhandlungstischen gefügiger zu geben.