© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Ein Angriff, der keiner war
Nach den Luftschlägen gegen syrische Chemieanlagen: Der Westen hat Rußland längst stillschweigend als Ordnungsmacht für Syrien anerkannt
Thomas Fasbender

Drei Tage lang hielt die Welt den Atem an – welche Taten würde Donald Trump seinem martialischen Raketen-Tweet vom vorvergangenen Mittwoch folgen lassen? Was am frühen Samstagmorgen schließlich kam, war ein begrenzter Militärschlag gegen angebliche Chemiewaffen-Einrichtungen unweit der Städte Damaskus und Homs. Sofort war das Wochenende von politischer Erleichterung geprägt. Die Zahl der Opfer schien gering, die Russen fühlten sich nicht angegriffen, sogar die Assad-Regierung glaubte, vorerst gut weggekommen zu sein.

Es gibt in Syrien nach wie vor Chemiewaffen

Die Informationslage nach dem Angriff ist dünn. Anders als behauptet kann Damaskus wohl nicht belegen, einen nennenswerten Teil der gut 100 abgefeuerten Marschflugkörper vom Himmel geholt zu haben. Doch auch die paar freigegebenen Bilder der Zerstörungen sagen weniger aus als bei vorherigen Attacken. Ebenso fehlen alle Hinweise auf freigesetzte Chemikalien, wie sie bei einem Militärschlag auf Lager- oder Produktionsstätten eigentlich zu erwarten gewesen wären.

Fest steht, daß die Schlagkraft der syrischen Armee nicht beeinträchtigt wurde; am Sonntag bestätigte das russische Oberkommando die Einnahme der gesamten Rebellen-Enklave Ost-Ghouta. Fest steht auch, daß es Chemiewaffen auf syrischem Territorium gibt, darunter Chlorgas, Senfgas und Sarin. Seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 wurde ihr Einsatz Dutzende Male dokumentiert, nicht zuletzt durch neutrale, internationale Instanzen.

Es war Moskau, das sich im September 2013 unter dem Druck eines unmittelbar bevorstehenden Militärschlags der USA anerboten hatte, ein umfassendes Vernichtungsprogramm aller syrischen Chemiewaffen zu koordinieren. In der Tat wurde der Großteil der Bestände vernichtet oder außer Landes geschafft, unter anderem mit logistischer Hilfe aus den USA. Aber eben nicht zu hundert Prozent. Mindestens drei angebliche Einsätze von Chlorgas und Sarin hat es seitdem gegeben, zuletzt am 7. April in der Stadt Duma im Gebiet Ost-Ghouta. Unklar ist in allen Fällen – genau wie bei den Giftgaseinsätzen vor 2013 –, welche der verschiedenen Bürgerkriegsparteien dafür die Verantwortung trägt. Dabei ist die Schuldzuweisung im Informationskrieg von zentraler Bedeutung.

Interessant: Anders als die deutschen Leitmedien ließ die englische BBC, obwohl das Verhältnis zwischen Moskau und London weitaus angespannter ist als das zwischen Moskau und Berlin, am Wochenende durchaus Experten zu Wort kommen, für die auch extremistische Anti-Assad-Rebellen als Täter nicht ausgeschlossen sind.

Der Militärschlag am frühen Samstagmorgen war bemerkenswert dadurch, was er nicht war und nicht sein sollte: kein Angriff auf die syrische Armee oder syrische Armeeeinrichtungen; kein Angriff auf Assads russische Verbündete; kein Anlaß für Rußland, seine in Syrien stationierten Luftabwehrsysteme einzusetzen. Die britische Premierministerin Theresa May sprach es explizit aus: Der Luftschlag war kein Akt im syrischen Bürgerkrieg und kein Teil einer Regime-Change-Strategie.

Nun gilt es, den nächtlichen Militärschlag vor dem Hintergrund der historischen Verschiebungen im Nahen und Mittleren Osten zu bewerten. Die europäische Vorherrschaft, die 1798 mit der ägyptischen Expedition unter Napoleon Bonaparte begann, liegt lange zurück. Seit der Ausrufung der Islamischen Republik Iran 1978 lebt die Region in einer Phase des Umbruchs. Derzeit rivalisieren dort starke regionale Mächte – Iran, Saudi-Arabien, Israel, die Türkei –, die ihrerseits mit den rivalisierenden Großmächten Rußland und USA koalieren. Saudi-Arabien, Israel und die USA sehen sich einer informellen Allianz aus Iran, Rußland und Syrien gegenüber, unterstützt von Teilen der irakischen Politik und der Hisbollah im Libanon. Der konfessionelle Antagonismus zwischen Schiiten und Sunniten wird politisch massiv instrumentalisiert. Hinzu kommt die Türkei, die sich, von Europa enttäuscht und gelangweilt, ihrem historisch angestammten Raum zuwendet und an geopolitischen Designs arbeitet, deren endgültige Gestalt nicht absehbar ist.

Der Westen kann seine Wert- und Ordnungsvorstellungen in der Region nicht einmal ansatzweise umsetzen. Alle Versuche der Demokratisierung und des „nation building“ sind auf breiter Front gescheitert; für die Lage in Afghanistan, im Irak und in Libyen trägt allein der Westen die Verantwortung. Ägypten ist nur deshalb eine Insel der Stabilität, weil man dort mit Präsident as-Sisi einen Herrscher duldet, der zum Status quo ante seines Vorvorgängers Mubarak zurückgefunden hat.

Moskau ist verantwortlich für die Befriedung

Das westliche Scheitern war auch ein Motiv für Rußland, 2015 im syrischen Bürgerkrieg zu intervenieren. Die russische Diplomatie verfügt über eine jahrhundertealte Orienttradition und sieht sich im Vergleich zu den westlichen Demokratien als den deutlich besser geeigneten Partner der Region.

Mit Blick auf Rußlands offensichtliches Comeback hat der Westen nur zwei Optionen. Er kann versuchen, Moskau mit einer martialisch-moralischen Aktion niederzuzwingen – mit dem nachhaltigen Risiko einer massiven militärischen Reaktion. Oder der Westen entwickelt gemeinsam mit Moskau – und China und anderen – eine multipolare, eurasische Sicherheitsarchitektur für das 21. Jahrhundert.

Im Kern zeigt die Militäraktion vom Wochenende, daß die Westalliierten die zweite Option wählen. Längst haben sie Rußland als Ordnungsmacht für Syrien anerkannt. Dessen nachhaltige Befriedung ist wichtiger als die Personalie al-Assad. Für Moskau ändert sich damit einiges. Der Westen gewährt den Russen die Augenhöhe, die sie seit dem Untergang der Sowjetunion so schmerzlich vermissen. Das bedeutet auch: Moskau trägt die Verantwortung für die Befriedung einer ganzen Region – und das bedeutet mehr, als nur der Verbündete einer Bürgerkriegspartei zu sein.

Die eigentliche Leistung, die Rußland für seinen Sitz am Tisch der makelnden Großmächte schuldet, liegt jetzt in der gemeinsamen Gewährleistung der völkerrechtlichen Minimalstandards. Nicht anders sind Donald Trumps Worte in der Angriffsnacht zu verstehen, als er den russischen Präsidenten an die 2013 gegebene Zusage der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen erinnerte: Hättet ihr eure Arbeit getan, hätten wir das Problem heute nicht. Damit wird auch die Frage sekundär, wer für die allfälligen Giftgaseinsätze verantwortlich ist – die Regierungstruppen oder bedrängte oppositionelle Extremisten in ihrer Not. Wer immer es war, der Einsatz von Chemiewaffen fällt letzten Endes in die Verantwortung der russischen Befriedungsmacht.

Die USA sind in der Zwickmühle. Sie wollen sich auf ihren „Pivot to Asia“ konzentrieren, den Schwenk zum pazifischen Raum. Gleichzeitig können sie im westlichen Eurasien kein Vakuum riskieren. Sie brauchen eine sinnvolle Form von Ablösung durch die Russen. Der Weg ist praktisch alternativlos; von der Europäischen Union als Machtfaktor in der Region wird nichts zu erwarten sein. Somit kommt es nur darauf an, daß Washington und Moskau zum Einvernehmen zurückfinden. Die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens hängt an der Qualität ihrer Kooperation.





Zitate

„Der Westen hat längst stillschweigend akzeptiert, daß Assad dank seiner Schlächtermentalität und seiner Helfer in Moskau und Teheran den Bürgerkrieg gewonnen hat. Mit der Selbstbeschränkung auf Aktionen gegen den Islamischen Staat gibt der Westen den Russen, Iranern und Assad überdies die Möglichkeit, alle Kräfte auf die Vernichtung der Opposition zu konzentrieren. Unsere Forderung gegen Assad läuft nur noch darauf hinaus, nicht auch noch unsere Nase in den Dreck zu reiben.“

Alan Posener, Die Welt, 16. April

„Man mag von solchen Raketen-Demonstrationen und – wie im Irak – von solchen Kriegen halten, was man will. Das deutsche Nöö und dann halbherzige Jein ist damals wie heute ausgesprochen flaschig, und dies auf eine sehr deutsche Weise. Auch wenn wir es uns noch so sehr einbilden: Wir stehen moralisch nicht höher als die willigen Krieger, wenn wir in biedermeierischer Beschaulichkeit vor Großverbrechern wie Saddam oder Assad nichts zu bieten haben, als einfach nur den Schwanz einzuziehen.“

Rainer Bonhorst, achgut.com,             16. April

„Es ist richtig, wenn die EU versucht, das Momentum für eine Wiederbelebung des diplomatischen Prozesses zu nutzen. Allerdings haben die Europäer in all den mörderischen Jahren des syrischen Bürgerkriegs selbst dann nie mit letzter Konsequenz auf einen Frieden gedrängt, als sich die Folgen des Elends mit der Flüchtlingskrise unmittelbar in Europa manifestierten. Ohne Rußland gibt es in Syrien keine Lösung, doch hat die EU den Druck auf Moskau nie spürbar erhöht. Nur knapp gelang es den Europäern, ihre Einigkeit zu wahren und die in der Ukraine-Krise verhängten Wirtschaftssanktionen aufrechtzuerhalten. Ohne Druckmittel bleibt freilich auch die Glaubwürdigkeit der EU als Friedensstifterin begrenzt.“

NZZ (Zürich), 17. April

„Die Russen sind überrascht, daß Ziele in der Nähe von Damaskus angegriffen wurden, daß sich Frankreich und Großbritannien beteiligt haben und die EU Unterstützung leistete. Die Frage ist, ob es im Interesse Rußlands, des Irans und Assads liegt, die Führer des Westens weiter zu provozieren, die keine große Wahl haben werden bei einem weiteren Einsatz von Chemiewaffen. Die Anschuldigungen durch Rußland, daß die westlichen Staaten zu einer humanitären Katastrophe beitrügen, sind, nach der Unterstützung des Kremls für den größten Verbrecher der Gegenwart, unredlich.“

Jerzy Haszczynski, Außenpolitik-Chef der Rzeczpospolita (Warschau), im Polskie Radio 24, 14. April

„Aber die zentrale Frage ist und bleibt, worin die Strategie der USA und des Westens eigentlich besteht. Trump mag einen Militärschlag geführt haben, aber in Wahrheit will er sich nach dem Sieg über den IS so rasch wie möglich aus dem blutigen und sinnlosen Chaos in Syrien zurückziehen. Wollen die USA und der Westen verhindern, daß ihnen die Kontrolle entgleitet, müßten sie ihre Truppen deutlich verstärken und alle ihre Verbündeten in der Region einbeziehen – und sie müßten Druck auf Rußland und den Iran ausüben, Assad endlich fallenzulassen. Aber all das wirkt im Augenblick nicht allzu wahrscheinlich.“

Lietuvos Rytas (Wilna), 17. April

„Der Krieg in Syrien zeigt seit Jahren schmerzhaft die Unzulänglichkeit der internationalen Politik. Im Uno-Sicherheitsrat blockiert Rußland jeden Versuch, gegen die Verletzungen des Völkerrechts durch das syrische Regime vorzugehen. Zugleich begründet Moskau seinen Protest gegen den Angriff der westlichen Mächte mit der Charta der Vereinten Nationen. Formal ist es sicher wahr: Der Angriff auf den souveränen Staat Syrien wurde nicht durch einen Beschluß des Sicherheitsrates legitimiert. Aber es wird nie eine solche Legitimierung geben, solange Rußland fest hinter Assad steht.“

NRC Handelsblad (Amsterdam), 17. April