© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Bibbern vor der Basis
Sonderparteitag: Am Sonntag will Andrea Nahles neue Vorsitzende der immer noch angeschlagenen SPD werden / Wahl wird kein Selbstläufer
Christian Schreiber

Gut ein Jahr nachdem Martin Schulz mit dem Rekordergebnis von hundert Prozent zum Parteivorsitzenden gewählt worden war, müssen sich die Sozialdemokraten abermals neu erfinden. Eine verlorene Bundestagswahl, eine revidierte Koalitionsaussage sowie eine Regierungsbeteiligung später soll Andrea Nahles es richten. Die Wahl der Rheinland-Pfälzerin zur ersten Frau an der Spitze der 155 Jahre alten SPD gilt zwar als sicher, doch kurz vor dem Sonderparteitag am Sonntag wächst die Sorge vor einem schlechten Ergebnis. 

Denn Nahles, die auch die Bundestagsfraktion anführt, hat Konkurrenz bekommen. Anfangs als reine Zählkandidatin abgetan, ist die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange in den vergangenen Wochen durch die Ortsvereine getingelt und hat jede Menge Sympathien gesammelt. Zwar rechnet niemand damit, daß die 41jährige die Sensation schafft, aber ein Viertel  der Delegierten könnte sie für sich gewinnen. Sollte es gar zu einem zweiten Wahlgang kommen, wäre Nahles bereits am ersten Tag ihrer Amtszeit angezählt.  

Ihre Herausforderin plädiert für eine Erneuerung der Partei, sieht den abermaligen Regierungseinstieg kritisch und macht sich für ein neues Grundsatzprogramm, eine nachhaltigere Umweltpolitik und ein Ende der Rußland-Sanktionen stark. Das ist an der Basis populär. Noch populärer ist allerdings eine andere Forderung. Lange plädiert für eine Rückabwicklung von Hartz IV. Dies sei „der Schlüsselmoment, um wieder erfolgreich zu sein“. Es gehört nicht viel Vorstellungskraft dazu, um sich auszumalen, daß die Kommunalpolitikerin mit diesen Forderungen in Wiesbaden viel Beifall erhalten wird. Nahles steckt dabei in einem Dilemma. Als neue Partei- und Fraktionsvorsitzende gehört sie der Regierung zwar nicht an, ist aber für den Erhalt des Koalitionsfriedens dennoch verantwortlich. „In der Regierung haben wir die Chance, jeden Tag zu beweisen, daß wir ganz konkrete Verbesserungen erzielen, die den Alltag der Menschen einfacher und besser machen“, heißt es in einem Leitantrag des Bundesvorstands für den Parteitag. Eine erbitterte Auseinandersetzung über die Sozialgesetzgebung käme daher in der Öffentlichkeit kaum gut an. Noch immer hangeln sich die Sozialdemokraten in Umfragen an der 20-Prozent-Marke entlang. Intern gilt der Parteitag daher als Chance, neuen Schwung zu nehmen. Und so mühten sich zahlreiche Gruppierungen, Geschlossenheit zu demonstrieren. Das SPD-Wirtschaftsforum rief die Parteibasis zur Wahl von Nahles auf. „Die Delegierten müssen sich ihrer Verantwortung bewußt sein – es ist nicht die Zeit für Experimente“, mahnte der Gründer des Forums, Harald Christ.

Doch es gibt auch Störenfriede. Der Chef der Jungsozialisten Kevin Kühnert zum Bespiel. Erbittert hatte er gegen eine neuerliche Regierungsbeteiligung der SPD gekämpft. Auch nachdem die Basis anders entschied, gibt er nicht auf. Er fordert Platz für linke Ideen in seiner Partei. Die Jusos sollten die Leitung der SPD-Arbeitsgruppe zu Arbeit und Sozialstaat erhalten. Und er legt den Finger in die Wunde: Denn bei Hartz IV gäbe es einiges „nachzuschärfen“. Kühnert bezeichnet die Wahl von Fraktionschefin Andrea Nahles zur Vorsitzenden  als noch offen. „Wir entscheiden erst beim Parteitag, ob Andrea Nahles künftig die SPD führen wird“, sagte Kühnert der Rheinischen Post. „Das Ergebnis ist noch offen, weil viele Delegierte ihre Zustimmung nicht zuletzt davon abhängig machen, ob ein konkreter Erneuerungsplan für unsere Partei vorgelegt wird“, so der Juso-Chef weiter. Dies klingt nicht nur nach einer Kampfansage, sondern ist wohl auch eine. Sollte Nahles den linken Rebellen inhaltlich nicht entgegenkommen, könnten diese zur Wahl Langes aufrufen und der Vorsitzenden so einen Fehlstart bescheren. Die Parteispitze beobachtet das Treiben an der Basis argwöhnisch und ist bemüht, mit Kompromißangeboten den Unmut zu besänftigen. Kurz vor der Zusammenkunft macht sie sich für ein neues Steuerkonzept stark, um vermögende Bürger stärker zur Kasse zu bitten. „Wir brauchen eine gerechtere Finanzierung der staatlichen Aufgaben und eine Korrektur der sozialen Ungleichheiten“, heißt es in einem weiteren Antrag. Mit dieser „Reichensteuer“ will Nahles wohl alle Flügel zusammenhalten, um möglichst unbeschadet aus Wiesbaden abreisen zu können.