© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Nicht grün über rote Roben
Bundesverfassungsgericht: In Karlsruhe müssen Posten neu besetzt werden / Verschiedene Koalitionen machen die Auswahl kompliziert
Jörg Kürschner

Das wird ausgekungelt, warum sollte man das bestreiten“, räumte der FDP-Rechtsexperte Detlef Kleinert unumwunden ein, nachdem er seinen Sozius Johann Friedrich Henschel zum Bundesverfassungsrichter gemacht hatte. Diese Worte sind 1995 in einer renommierten hannoverschen Anwaltskanzlei gefallen. Und der langjährige Bundestagsabgeordnete, ein mächtiger Strippenzieher im Hintergrund, fügte hinzu: „Im Wahlmännergremium ist noch kein Verfassungsrichter gemacht worden.“ Eine Einschätzung, die seinerzeit für Empörung sorgte, aber der Wahrheit entsprach.

Grüne drängen erneut nach Karlsruhe

Über 20 Jahre später steht der Richterwahlausschuß wieder einmal vor der Aufgabe, neue Verfassungsrichter zu bestimmen. Das 32köpfige Gremium besteht zur Hälfte aus vom Bundestag berufenen Mitgliedern sowie 16 Landesministern. Gewählt ist nur, wer eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Da weder CDU/CSU noch SPD einen Kandidaten allein durchbringen konnten, haben sie sich abwechselnd das Vorschlagsrecht eingeräumt. Gelegentlich kamen auch Bewerber der FDP und der Grünen zum Zug, aus koalitionspolitischen Gründen. 

Zuletzt waren das Andreas Paulus für die FDP (2010) und Susanne Baer für die Grünen (2011). Die verpartnerte Juristin hatte sich an der Berliner Humboldt-Universität mit Gender-Studien befaßt, was unter den traditionell konservativen Juristen nicht unbedingt als Empfehlung für das höchste deutsche Gericht galt. Gewählt wurde Baer gleichwohl, denn die Hüter des Grundgesetzes haben sich in der Vergangenheit um Überparteilichkeit bemüht und so manche Parteiführung enttäuscht. 

Eine knappe Dekade später drängt es die Grünen erneut nach Karlsruhe; unter deutlich veränderten politischen Bedingungen. Im Bundestag sind Union und SPD von einer Zweidrittelmehrheit weit entfernt, die 16 Bundesländer werden von 13 verschiedenen Koalitionen regiert. Mit anderen Worten, das mittlerweile zerklüftete politische Gelände hat die Mehrheitsverhältnisse unübersichtlich gemacht und erschwert Nominierungen. 

Anders als zu Bonner-Kungelzeiten sind Union und SPD jetzt auf die Grünen angewiesen, die an neun der 16 Landesregierungen beteiligt sind. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit gibt es nur mit der Ökopartei, die im Bundestag ihre Rolle als kleinste Oppositionsfraktion sucht. Um so mehr giert die Parteispitze, frustriert durch das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, nach politischen Erfolgen. Zusammen mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann pocht sie auf eine informelle Verabredung aus dem Jahr 2016. Damals waren sich Union, SPD und Grüne einig, daß diese jeden fünften von der Länderkammer zu bestimmenden Richter vorschlagen dürfen. Zwei Jahre später wollen Union und SPD davon nichts mehr wissen. Mehrere Gespräche verliefen ergebnislos, die Grünen drohen mit Blockade. Die Ministerpräsidenten müssen sich spätestens bis zur  Bundesratssitzung am 8. Juni einigen. 

Heikel ist insbesondere die Zusammensetzung des Ersten Senats des aus zwei Spruchkammern bestehenden Gerichts. Dort erreicht der auf Vorschlag der Union gewählte Richter Michael Eichberger Ende April die gesetzlich zulässige Amtszeit von maximal zwölf Jahren. Die Grünen bestehen nun auf eine Nachbesetzung aus den eigenen Reihen. Im Gespräch ist Claudio Nedden-Boeger, derzeit Richter am Bundesgerichtshof. Vorbehalte wegen dessen fachlicher Qualifikation werden anders als im Fall Baer nicht vorgebracht. Es geht vielmehr um die politische Statik des höchsten deutschen Gerichts, das in der Bevölkerung ein hohes Ansehen genießt. Dieses könnte leiden, „wenn ein Grüner auf einen Schwarzen folgt“, heißt es in Unionskreisen des Bundesrats. 

Bemerkenswert ist, daß die Bedenken im Bundesverfassungsgericht geteilt werden. Offizielle Äußerungen gibt es zwar nicht, doch wird eine Politisierung des 1951 gegründeten Gerichts befürchtet. Präsident Andreas Voßkuhle hat mehrfach den hohen Wert des Standorts Karlsruhe hervorgehoben, fernab von der Berliner Regierungsmeile. Zudem wird darauf hingewiesen, daß es im Ersten Senat bereits jetzt eine linke Mehrheit gebe. Noch komplizierter werden die Besetzungen durch die Personalie Ferdinand Kirchhof, gleichfalls ein der Union zugerechneter Jurist, der im Juni seine Robe ablegen muß. Dann hat der jüngere Bruder des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof die Altersgrenze von 68 Jahren erreicht. Dessen Nachfolger würde nach der bisherigen Praxis 2020 neuer Gerichtspräsident, da Voßkuhle aus Altersgründen ausscheiden muß. Das Vorschlagsrecht hätte die Union.

Nach ihrem Einzug in den Bundestag ist die AfD erstmals mit den Personalien des Bundesverfassungsgerichts beschäftigt. Urteile sind bislang eher zurückhaltend kommentiert worden. Der Richterspruch, in das Geburtenregister müsse ein drittes Geschlecht aufgenommen werden, stieß (wohl nicht nur) bei Fraktionschefin Alice Weidel auf Unverständnis. Andererseits konnte sich die AfD in ihrer Rechtsauffassung bestätigt fühlen, da die Richter die jüngst aus dem Amt geschiedene Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) wegen der Verletzung der Chancengleichheit der Partei  gerügt hat. 

Roman Reusch, bis zu seiner Wahl in den Bundestag in Berlin tätig als Leitender Oberstaatsanwalt, lehnt eine politische Besetzung der Gerichte generell ab. Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT verweist das Ende März vom Bundestag gewählte Mitglied des Richterwahlausschusses auf das AfD-Bundestagswahlprogramm. Darin heißt es kurz und knapp: „Die Justiz muß entpolitisiert werden.“ Beispiele aus der Vergangenheit, etwa die Berufung des früheren saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller in den Zweiten Senat, mag er, ganz der distinguierte Jurist, nicht kommentieren. Flagge zeigen bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter will die AfD gleichwohl. Die Fraktion hat den Rechtswissenschaftler Hansjörg Huber als Verfassungsrichter nominiert. Der Sozialrechtler lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz. Ob 2018 ähnlich gekungelt wird wie 1995 – Reusch will es gelassen abwarten.