© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Historischer Kompromiß
Dokumentation: Auszug aus dem in der JF-Edition erschienenen Buch von Karlheinz Weißmann über die 68er-Bewegung
Karlheinz Weißmann

Die von Helmut Kohl proklamierte „geistig-moralische Wende“, die mehr sein sollte als ein Regierungswechsel, bezog ihre Plausibilität auch und gerade aus der Vorstellung, daß aufgeräumt werden müsse mit einer Fehlentwicklung, die ’68 begonnen habe. Aber die Widerstände waren stärker als erwartet. Schon Mitte der achtziger Jahre wurde erkennbar, daß die Achtundsechziger zwar keinen triumphalen und keinen lauten, aber einen „späten Sieg“ errungen hatten (…) Als die „geistig-moralische Wende“ abgesagt wurde, hatte das mit der Erkenntnis zu tun, daß es im Grunde keine Deckung für das große Zurück gab. Weder die Verwaltung noch die Armee, weder die Kirchen noch die Parteien, weder die Wirtschaftsverbände noch die Gewerkschaften hatten die Veränderung der Gesellschaft unbeschadet überstanden. Bis in den letzten Winkel des Familien- und Privatlebens waren Vorstellungen eingedrungen, die man bis zum Ende der sechziger Jahre strikt zurückgewiesen hätte, vor allem auf den Feldern der Erziehung und der Sexualmoral. Individualismus und Selbstbestimmtheit, Lust und Lustgewinn galten nur noch einer Minderheit als problematisch, eher als erstrebenswert, im Sinne eines möglichst genußreichen und anstrengungslosen Lebens. Die Grünen, die das politische Erbe von ’68 als Protestpartei angetreten hatten, schienen so weit domestiziert, daß sie in das bestehende Gefüge eingeordnet werden konnten.

Als Grund zur Besorgnis erschien das kaum noch jemandem. Zwischenzeitlich brach der Kommunismus zusammen, die von den Achtundsechzigern mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfte Wiedervereinigung wurde vollzogen, Deutschland war von Freunden umzingelt, und manchem schien das „Ende der Geschichte“ nahe. In dieser Atmosphäre kam der historische Kompromiß zwischen Bürgerlichen und Achtundsechzigern zustande. Die einen gaben den Plan einer Restauration auf, die anderen legten ihre Utopie ad acta, die einen waren sowieso überzeugt, daß nur ökonomische Fragen den Ausschlag gaben, die anderen hatten sich mit der Verfügung über die soft skills gut eingerichtet. Auf ihre heroische Zeit ließen sie aber nichts kommen.

Karlheinz Weißmann: Kulturbruch ‘68. Die linke Revolte und ihre Folgen. JF-Edition, Berlin 2017, gebunden, 252 Seiten, 19,90 Euro