© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Ein Auf und Ab der Gefühle
Down-Syndrom: Die geschätzte Schwangerschafts-Abbruchquote bei Trisomie 21 beträgt in Deutschland bereits 90 Prozent – Segen oder Fluch?
Martina Meckelein

Auf Werbeplakaten tanzen sie auf einer grünen Wiese im Sonnenschein und lächeln uns entgegen – fröhliche Kinder mit Down-Syndrom. Früher nannte man sie Mongoloide. Heute: Gehandycapte. Bloß nicht Behinderte! Aber sie lächeln nur noch auf Werbeplakaten – denn Hand aufs Herz: In der Öffentlichkeit, auf der Straße, im Bus oder in einer Gaststätte sind sie nur noch äußerst selten zu sehen. Kein Wunder. Denn die geschätzte Schwangerschafts-Abbruchquote bei Kindern mit Down-Syndrom beträgt in Deutschland 90 Prozent. Ist die pränatale Diagnostik eine moderne Form der in ihren nationalsozialistischen Auswüchsen zu Recht in ihrer menschenverachtenden Inhumanität zu verurteilenden Euthanasie? Warum werden so viele Schwangerschaften unterbrochen, wenn Trisomie 21 diagnostiziert wird?

„Wir gehen sogar davon aus, daß über 95 Prozent der Schwangerschaften, die als Trisomie 21, 15 oder 18 diagnostiziert werden, abgebrochen werden“, sagt die Ärztin Barbara Dohr vom Beratungszentrum ProFemina der JUNGEN FREIHEIT. Mehr als 8.400 Beratungsgespräche führte ProFemina 2017 in ihren beiden Zentren in München und Heidelberg durch, persönlich oder am Telefon oder per Mail. Der Grund für die Frauen, das Kind abzutreiben, liegt, so Dohr, vor allem am gesellschaftlichen Druck, dem sich die Frauen ausgesetzt fühlen. „Und auch, das muß ich leider sagen, oft an meinen Kollegen, den Ärzten, die die Diagnose schließlich ihren Patientinnen mitteilen. Da fallen Sätze wie: In der heutigen Zeit muß das doch nicht mehr sein.“

Trisomie 21 oder Down-Syndrom ist ein genetischer Defekt, mit dem in Deutschland geschätzte 50.000 Menschen leben. Weltweit sollen es fünf Millionen sein, so das Deutsche Down-Syndrom-Infocenter. Geschätzt wird, daß alle drei Minuten ein Kind mit Down-Syndrom geboren wird. Auf 800 Geburten käme eine mit Down-Syndrom.

Statt 46 Chromosomen, die sich zu 23 Chromosomenpaaren zusammenfinden, besitzen Menschen, die das Down-Syndrom haben, 47 Chromosomen. Das liegt am 21. Chromosom. Es kommt drei- statt zweimal in jeder Körperzelle vor. Die Auswirkungen sind vor- und nachgeburtliche Entwicklungsstörungen, frühes Altern, eine Immunschwäche und meistens, allerdings nicht grundsätzlich, eine geistige Behinderung, deren Schweregrad unterschiedlich ausfällt.

 Betrug noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen mit diesem Gendefekt rund 30 Jahre, sind es heute – in Deutschland – rund 60 Jahre. Der Grund: Die Immunschwäche, an der alle Down-Syndrom-Träger leiden und die früher häufig zum frühen Tod führte, ist heute durch Antibiotikagaben im Zaum zu halten. 

Die Stiftung Ja zum Leben hilft in Notsituationen 

Der Gendefekt wird durch die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Untersuchungen erkannt. Dadurch wird die Mutter, denn sie ist es, die die Entscheidung treffen muß, vor die Entscheidung gestellt: Leben oder Tod!

„Diese Situation muß man sich einmal vorstellen“, sagt Dohr, „ kerngesunde Frauen werden schwanger und gehen natürlich davon aus, daß auch ihre Kinder gesund sind. Und dann, in der 12. Woche, nach dem ersten pränatalen Test, kommt die Diagnose Trisomie. Die Frauen sind tief geschockt und entsetzt – ein Fall ins Bodenlose. All ihre Hoffnungen, Wünsche, ihre gemeinsam erdachte Zukunft mit dem Kind zerbrechen von einer Sekunde zur anderen.“

Das deutsche Strafgesetzbuch gibt schwangeren Frauen, durch Paragraph 218a, die Möglichkeit der Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Absatz 2 konkretisiert die medizinische Indikation: „Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“

Das heißt, so ProFemina auf ihrer Webseite: „Wenn bei der Pränataldiagnostik eine Behinderung oder schwere Krankheit des Kindes festgestellt wird, wird ein Schwangerschaftsabbruch mit einer medizinischen Indikation der Mutter begründet. Hier gibt es keine zeitliche Begrenzung, das heißt, es sind auch sogenannte ‘Spätabtreibungen’ straffrei, die theoretisch bis kurz vor der Geburt stattfinden können.“ 

In dieser Situation rufen die Schwangeren in Beratungszentren wie ProFemina oder Die Birke oder Stiftung Ja zum Leben an. „Natürlich“, so Barbara Dohr, „darf die Frau weinen, ihren Schmerz zulassen. Ja, sie darf hadern. Das ist wie ein Trauerprozeß. Sie soll sich wertgeschätzt fühlen, auch in ihrem Schmerz angenommen. Wir bieten den Frauen ein liebevolles Kissen, in das sie weinen darf. Und natürlich stellt sie sich die Frage: Warum ich? Warum mutet mir das Leben das zu. Das ist verständlich, klassisch – aber eben niemals zielführend.“ Bis über die 24. Woche hinaus ist eine Abtreibung möglich. Eine sogenannte Stille Geburt. Das Kind wird noch im Mutterleib getötet, dann tot geboren. 

2017 zählte das Statistische Bundesamt 101.209 Abtreibungen, davon 3.911 wegen einer medizinischen Indikation. Wiederum wurden 654 Schwangerschaften nach der 22. Woche beendet. Erschreckend an den Zahlen ist, daß zwar die Abtreibungen insgesamt in den Jahren 2010 bis 2016 sanken, von 110.431 auf 98.721, die Zahlen der Spätabtreibungen aber stiegen – von 462 auf 630.

Insgesamt ist das Wissen über eine Krankheit oder eine Behinderung des werdenden Lebens für die Frauen eine enorme physische und psychische Belastung. Ein Auf und Ab der Gefühle. Letztlich wird von ihr eine Entscheidung erwartet.

 Häufig werden die Frauen alleingelassen

„Vor fünf Jahren erlebte ich es auch: Die lang ersehnte Schwangerschaft nach einem Abgang, die Nackenfaltenmessung voller Hoffnung, Auffälligkeit, die Entscheidung zur Biopsie und schließlich das schlimme Ergebnis ... Trisomie 21 mit Herzfehler, ungewiß, ob die Schwangerschaft erfolgreich wird und welchen Grad der Behinderung das Kind dann haben wird.“ Diese Sätze schreibt eine Frau am 22. Februar 2016 ins Internet. Auf dem Blog „Urbia  – Wir lieben Familie“ ist dies zu lesen. Ihr Erlebnisbericht ist die Antwort auf die Frage einer Schwangeren, die die Diagnose Trisomie 21 für ihr werdendes Kind bekommen hat. Die Frau schreibt weiter: „Es war ein schweres Ringen und für mich brach eine Welt zusammen. Wir haben uns dann für ein bewußtes Ende entschieden. Ich konnte die Sorgen nicht ertragen (...) mich erschreckte der Gedanke, was mal wird, wenn wir nicht mehr sind (...) es waren die dunkelsten Tage in meinem Leben.“

Sorgen, mit denen viele Frauen in die Beratungsgespräche gehen. „Es ist die Ungewißheit“, sagt Dohr, „was kommt da auf mich zu? Und wie soll ich das schaffen? Wird das Kind leiden? Was wird aus ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin? Und subkutan spielt natürlich immer eine Rolle: Wird mein Kind mal studieren. Denn natürlich erhoffen alle werdenden Mütter das Beste, die beste Ausbildung für ihr Kind. Und natürlich haben sie Angst, den Partner und den Freundeskreis zu verlieren.  Was werden die Leute von mir denken, mit einem behinderten Kind?“

Keine unberechtigte Frage, denn, so Dohr, häufig werden sie alleingelassen mit dieser einzigartigen neuartigen Herausforderung. „Hier ist gerade die Rolle der Männer entscheidend. Seit über zehn Jahren führen wir Statistiken, warum Frauen abtreiben wollen. 39 bis 41 Prozent nennen als Grund eine instabile Partnerschaft. Entweder sei die Beziehung zu kurz oder zu problembeladen, das Kind vom Ex oder der Kindsvater will partout das Kind nicht. Das heißt: Rund 40 Prozent der Männer stehen nicht zu der Frau, dem Kind oder beiden. Gerade in der Schwangerschaft für eine Frau sehr schwer zu verkraften.“

Die anderen 60 Prozent geben als Gründe Belastung durch Alleinerziehung, durch die anderen Kinder oder eine reisende Berufstätigkeit oder den ersten befristeten Arbeitsvertrag an. Dann die Biographie. Sie seien zu alt, zu jung oder krank. Weniger als zehn Prozent nennen materielle Gründe wie Arbeitslosigkeit oder Schulden.

ProFemina wird den Frauen die Sorgen nicht nehmen können, aber Hilfe – durch Information, aber auch ganz praktisch – weiter anbieten. „Dafür haben wir Spezialisten bei uns. Sozialpädagogen, Ärzte, Theologen und Psychiater, die die Frauen begleiten.“ Und wenn eine Frau sich dann doch gegen das Kind entscheidet? „Dann respektieren wir diesen Schritt. Aber wir sind, zum Beispiel für das Post-Abortion-Syndrom, keine Fachleute, da braucht es Spezialisten. An die vermitteln wir natürlich.“

Übrigens, die nächsten zwei Wochenenden ist Dohr ausgebucht – zwei Taufen ihrer Schützlinge stehen an. „Überkonfessionell sozusagen“, schmunzelt sie. „Das eine Kind ist evangelisch, das andere katholisch.“

 www.diebirke.org

 www.profemina.org

 www.ja-zum-leben.de





„Woche für das Leben“

Das Leben hat viele Facetten. Es ist niemals einfach, wahrlich nicht immer Freude und schon gar nicht herrscht immer Friede. Den Themen unserer Zeit widmen sich seit 1994 einmal im Jahr die Katholische und die Evangelische Kirche in Deutschland gemeinsam unter dem Motto „Woche für das Leben“. Jedes Jahr hat ein Schwerpunktthema, wie Pflegen, Sucht oder Sterben. Damit soll ein Bewußtsein für die Würde des menschlichen Lebens geschaffen werden. Eine einzigartige Aktion in Europa. Das Motto des Schwerpunktthemas heißt in diesem Jahr: „Kinderwunsch. Wunschkind. Unser Kind!“ Es geht um die Vorzüge, aber auch um die Grenzen der Pränataldiagnostik. Denn, so die Veranstalter: „Kinder mit gesundheitlichen Einschränkungen erblicken immer seltener das Licht der Welt.“ Vom 14. bis 21. April 2018 bieten die beiden Kirchen Raum für Diskussionsrunden, Veranstaltungen und Gottesdienste zu dem Thema. Die Woche für das Leben wird am 14. April 2018 mit einem Gottesdienst im Dom St. Peter zu Trier eröffnet.