© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Peinlich für Berlin
Wirtschaftspolitik: Turkish Airlines fliegt der Konkurrenz davon / Dritter Flughafen von Istanbul liegt im Plan
Thomas Fasbender

Deutschland muß bald ganz tapfer sein. Während man es hierzulande auch Jahre nach dem ursprünglichen Eröffnungstermin nicht fertigbringt, den BER-Hauptstadtflughafen in Betrieb zu nehmen, sieht alles danach aus, als ob der dritte Flughafen von Istanbul seine Tore wie geplant am 29. Oktober 2018 öffnet. Das entspricht einer effektiven Bauzeit von rund dreieinhalb Jahren – man muß nur wollen.

Der Istanbul Yeni Havaliman? zielt auf Platz eins in der Weltrangliste: 150 Millionen Jahrespassagiere in der Ausbaustufe 2030 mit einem Gesamtpotential von 200 Millionen. Noch liegen London und Paris an der Spitze der europäischen Luftverkehrskreuze. Doch Istanbul-Atatürk lag schon 2015 erstmals auf Platz drei, 2016 dann wieder Frankfurt und 2017 Amsterdam.

Grundig-Produkte und Autos kommen aus der Türkei

Auch die nationale Fluggesellschaft Turkish Airlines liegt auf Rekordkurs. Keine zweite Gesellschaft bedient ein so weitverzweigtes Streckennetz: 302 Destinationen in 120 Ländern. Weltrekord. 2017 wurden mit 68,6 Millionen fast zehn Prozent mehr Passagiere befördert als im Jahr davor. Emirates (59 Millionen) und Lufthansa (66,2 Millionen) liegen dahinter. Und im Februar 2018 beförderte Turkish Airlines 26 Prozent mehr Passagiere als im Vergleichsmonat des Vorjahres und erreichte eine Rekord­auslastung fast 80 Prozent. Turkish Airlines hat 328 Passagier- und Frachtflugzeuge im Einsatz, Lufthansa 277, British Airways 269 und Air France nur 217.

Ganz offensichtlich beleben Rivalitäten das Geschäft. Wem gelingt es, sich als logistisches Drehkreuz im Westen des zusammenwachsenden eurasischen Kontinents zu etablieren: den Europäern, den Golfstaaten oder eben der Türkei, strategisch günstig zwischen West und Ost gelegen? Seit 1999 ist die türkische Wirtschaft jedes Jahr im Schnitt um 4,83 Prozent gewachsen. 2017 waren es nach drei (relativen) Schwächejahren erneut 7,4 Prozent. Auch für 2018 zeigt der Vektor nach oben. Getragen wird die Entwicklung von einer fundamentalen Umorientierung der Volkswirtschaft. Stammte noch vor 50 Jahren die Hälfte der türkischen Wirtschaftsleistung aus dem Agrarbereich, sind es inzwischen nur noch rund sechs Prozent. Heutzutage dominieren Dienstleistungen (zwei Drittel) und Industrie (ein weiteres Viertel).

Charakteristisch für die türkische Industriepolitik ist, daß sie nur bedingt auf eine Strategie der verlängerten Werkbank für westeuropäische Hersteller setzt. Auch deutsche Firmen sehen die Türkei nicht als klassisches Billiglohnland. Eine größere Rolle spielen der dynamische Binnenmarkt und die traditionell guten deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen, die tief in die osmanische Zeit zurückreichen. Das Siemens-Engagement – Energie, Forschung, Infrastruktur – erklärt sich auch aus der gemeinsamen Geschichte von 160 Jahren.

Beispielhaft für das neue Selbstbewußtsein ist die Familienholding Koç. 2004 übernahm der türkische Mischkonzern die Multimediasparte von Grundig, verlagerte die Produktion in die Türkei und exportiert seither mit deutlich steigender Tendenz Grundig-Produkte nach Deutschland. Das internationale Gewicht der türkischen Wirtschaft wird nicht zuletzt von der Autoindustrie bezeugt. Mit 1,5 Millionen Fahrzeugen produziert das Land ein Viertel mehr als Italien. Bei Transportern und leichten Nutzfahrzeugen – Ford Transit, Fiat Doblò, Opel Combo – ist die Türkei sogar die führende Autonation in Europa. Insgesamt 13 Weltmarken sind in der Türkei mit Fertigungsstätten präsent, zudem mehr als die Hälfte der 50 weltweit wichtigsten Zulieferer.

War in der Vergangenheit Europa der wichtigste Exportkunde für türkische Fahrzeuge, so profitieren die Produzenten seit Jahren von der wachsenden Dynamik der neuen Schwellenmärkte. Der wirtschaftliche Aufstieg von Rußland über Zentralasien und den islamischen Gürtel bis nach Afrika bietet der zentral gelegenen Türkei ungeahnte Absatzmöglichkeiten.

Das gilt nicht nur für die Kfz-Produktion. Schon in den Jahren nach 2006 fiel der EU-Anteil an den türkischen Exporten von über 56 auf 39 Prozent 2012. Seit Wiederbelebung der europäischen Konjunktur gehen wieder mehr türkische Ausfuhren an Kunden in der EU, 2017 waren es fast 50 Prozent. Ganz bewußt hält die Türkei ihre Position zwischen Ost und West – allzeit bereit, von allen Chancen zu profitieren.

Die Schattenseiten des anhaltenden Wachstums sind offensichtlich. Da ist die Inflation von um die zehn Prozent seit über einem Jahrzehnt. Verglichen mit den Exzessen der Geldentwertung in den Jahrzehnten zuvor – bis zu 140 Prozent – fällt das gegenwärtige Niveau allerdings kaum ins Gewicht. Nicht zu unterschätzen ist das Wachstum der Auslandsschulden, auch wenn diese mit etwas über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung weniger als die Hälfte der durchschnittlichen EU-Auslandsverschuldung betragen. Massiv hingegen ist der Verfall der türkischen Lira, die seit 2013 rund die Hälfte ihres Außenwerts eingebüßt hat.

Aus der EU ertönt in jüngster Zeit die Klage, Ankara leiste protektionistischen Handelshemmnissen Vorschub. Allem Anschein nach setzt die Türkei im Verhältnis zur EU nach 20 Jahren Beitrittshoffnung auf Distanz. Die Stimmung: Lieber ein eigener Weg als fünftes Rad am fremden Wagen. Um so intensiver werden die Alternativen kultiviert. Dazu gehört das von der russischen Rosatom projektierte Kernkraftwerk Akkuyu in Südanatolien. Erst Anfang April haben die Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan von Ankara aus dem Baustart per Videolink beigewohnt.

Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer (AHK Türkei): www.dtr-ihk.de

Der neue dritte Flughafen von Istanbul: www.igairport.com 





Handelsaustausch Deutschland-Türkei

Die deutsche Exportwirtschaft ist von guten Beziehungen zwischen Berlin und Ankara abhängiger als die türkische Exportwirtschaft: Unternehmen in Deutschland exportierten 2017 Waren für 21,5 Milliarden Euro in die Türkei – umgekehrt waren es nur 16,2 Milliarden Euro. 2007 waren es lediglich 15,1 bzw. 9,8 Milliarden Euro. Deutschland ist mit Abstand der größste Abnehmer türkischer Warenausfuhren. Erst dahinter folgen Großbritannien, der Irak und Italien. Die Türkei als Exportmarkt ist für Deutschland wichtiger als Japan (19,5 Milliarden Euro) oder Südkorea (17,5 Milliarden Euro). Insgesamt sind in dem 81 Millionen Einwohner zählenden Land an der Schnittstelle von Europa und Asien etwa 6.800 deutsche Firmen vertreten. Vorreiter war Siemens: die Firma baute 1856 in Konstantinopel das erste Telegrafenamt. Anfang des 20. Jahrhunderts übernahmen Philipp Holzmann, Krupp und die Deutsche Bank den Bau der Anatolischen und der Bagdad-Bahn. Bosch ist seit 1910 in der Türkei vertreten. Mercedes und MAN bauen seit den sechziger Jahren Lkws und Busse in der Türkei für den Weltmarkt.