© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

„Das wäre gespenstisch“
Der frühere innenpolitische Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Hans-Peter Uhl, war bis Ende 2017 die Stimme seiner Fraktion zum Thema Türkei. Er warnt davor, die Entwicklungen am Bosporus zu unterschätzen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Uhl, warum haben Sie sich im Bundestag in Sachen Türkei engagiert?

Hans-Peter Uhl: Weil ich meine, daß das Land nicht fair behandelt wurde.

Inwiefern? 

Uhl: Weder Bonn noch Berlin oder gar Brüssel haben der Türkei je die Wahrheit gesagt. Schon zur Zeit Helmut Kohls wurde ihr der EU-Beitritt wie ein Wurstzipfel hingehalten. 

Die Wahrheit dagegen lautet?

Uhl: Den Türken wurde vorgemacht, sie könnten Mitglied werden, wenn sie sich nur weiter westlich entwickelten.

Und das war gelogen?

Uhl: Das war von Anfang an eine Illusion, die bei den Türken hervorzurufen weder redlich noch klug war. So wurden Hoffnungen geweckt, die enttäuscht werden mußten, was zu großer Frustration am Bosporus geführt hat.  Und auch zu dem, was wir mit Erdogan in den letzten Jahren erleben mußten.

Wer konkret hat daran schuld – Kohl, der Europäische Rat, die EU-Kommission?

Uhl: Ich will nicht darüber richten, wer wieviel Schuld trägt. Unsere Unehrlichkeit der Türkei gegenüber hat viele Väter.

Kanzlerin Merkel regiert schon 13 Jahre, trägt sie also nicht die Schuld? 

Uhl: Nun, es wirkten eben starke Kräfte der Ehrlichkeit in dieser Frage entgegen. 

Konkret?

Uhl: Etwa London, das die EU stets auszubremsen versuchte, aber auch die USA.

Was sollen letztere davon haben? 

Uhl: Anders als den Briten geht es ihnen nicht darum, die EU zu behindern. Ihr Interesse ist es, die Türkei als Verbündeten zu halten und durch einen EU-Beitritt möglichst eng an den Westen zu binden. Welchen Schaden dabei Europa nimmt, ist für sie zweitrangig. 

Welchen Schaden nähme es? 

Uhl: Das türkische Volk ist allein in den letzten 25 Jahren um etwa zwanzig Millionen auf knapp achtzig Millionen Menschen gewachsen. Erdogan hat 2013 die Parole ausgegeben: „Türkinnen sollen mindestens drei Kinder zur Welt bringen!“ Und so werden es in naher Zukunft um die hundert Millionen sein. Das würde zu einem enormen Stimmgewicht der Türkei in der Union führen, die derzeit gut 500 Millionen Einwohner hat. Abgesehen davon, daß diese hundert Millionen Türken früher oder später auch Freizügigkeit in der EU genössen, würde diese Größenordnung die EU in jeder Hinsicht überlasten und unsere Grenzen bedenklich verschieben – nämlich in direkte Nachbarschaft der Krisenherde Syrien, Irak und Kaukasus sowie zum Iran. Das wäre gespenstisch! 

Also die Beitrittspläne offiziell begraben? 

Uhl: Das wäre das klügste und ehrlichste. Es müßte nur so gehandhabt werden, daß Erdogan daraus innenpolitisch keinen propagandistischen Nutzen ziehen kann – das ist das Problem, über das wir vor allem nachdenken sollten!

Ist das Problem nicht, daß die Idee auch bei uns, etwa in der Union, verankert ist?

Uhl: Nein, ehrlich gesagt, kaum.

Aber in der CDU/CSU wird der Beitritt einer geläuterten Türkei doch begrüßt. 

Uhl: Nein, insgeheim wünscht man, der möge nie stattfinden. Nur traut man sich nicht, das zu sagen. Statt dessen hofft und wartet man, daß Erdogan damit Schluß macht, damit man nicht den Schwarzen Peter hat. 

Was ist mit der Kanzlerin? 

Uhl: Auch die will die Vollmitgliedschaft insgeheim nicht. Der einzige Spitzenpolitiker der Union, der wirklich davon überzeugt ist, war der kurzzeitige Generalsekretär Ruprecht Polenz, der aber ziemlich alleine stand auf weiter Flur. 

Ist dieses Theater nicht feige? 

Uhl: Das mögen Sie so sehen. In der Union gilt das als diplomatisch klug.

Aber die „starken Kräfte“, von denen Sie sprachen, wie die USA – ist das nicht vorgeschoben? Widerstände sind in der Politik doch kein Argument, denn gewählt wird eine Regierung, damit sie sich durchsetzt. 

Uhl: Hat sie aber nicht. Aber die Strategie, darauf zu setzen, daß es Erdogan ist, der die Beitrittsverhandlungen aufkündigt, ist ja nicht unklug. Nur hat man andererseits die Illusionen der Türken dadurch nur noch länger genährt, was die Enttäuschung um so größer macht. Das Beste wäre gewesen, man hätte sich von vornherein nicht darauf eingelassen und statt dessen ganz auf eine privilegierte Partnerschaft mit Ankara gesetzt. Doch dort hat man sich jetzt enttäuscht Moskau zugewendet. 

Was steckt dahinter?

Uhl: Zweifellos auch ein Rachebedürfnis gegenüber den Europäern, aber ebenso die schiere wirtschaftliche Not. Schauen Sie sich doch an, wie die Türkei als Folge von Erdogans Politik dasteht: Anstieg der Staatsverschuldung und Inflation, Rückgang der Exporte, Verfall der Immobilienpreise, enorme Verluste im Tourismus, der für das Land extrem wichtig ist etc. Falls Sie Lust haben, Hotelier zu werden: Jetzt können sie dort eine Bettenburg für ein Butterbrot kaufen. Und wenn Sie Urlaub machen und dabei sparen wollen – dann jetzt dort hin! 

Ist Rußland eine Alternative für Ankara? 

Uhl: Nicht langfristig, denn die Russen haben ganz andere Interessen als die Türken. Ihr Bündnis, ebenso wie das der beiden mit dem Iran, ist eines von situativem, nicht von grundsätzlichem Nutzen. Rußland hat außer Öl, Gas und Waffen kaum etwas anzubieten und kein Interesse an Erdogans außenpolitischem Hauptproblem, der Kurdenfrage. Und was die Macht Baschar al-Assads in Syrien angeht, sind die Interessen sogar gegensätzlich: Moskau pro, Ankara contra.  

Folgt Erdogan einer neoosmanischen Idee?

Uhl: Ach, als außenpolitisches Konzept ist er damit gleich zu Beginn seiner Regierungszeit gescheitert, als er sich zum Sprecher der arabischen Welt machen wollte, von dieser aber eine kalte Abfuhr erhielt. Nein, der Neo-Osmanismus ist bei ihm wie bei Putin der Traum vom Russischen Reich: Das sind keine konkreten außenpolitischen Vorhaben, sondern nationalistische Bilder, mit denen man vor allem Wähler gewinnen will.   

Welchen geopolitischen Plan hat er dann?

Uhl: Ich glaube, gar keinen, er irrlichtert. Er streitet mit Rußland, er versöhnt sich mit Rußland. Er streitet mit Deutschland und will dann Entspannung. Er hat den IS unterstützt und ihn dann bekämpft.

Und er bekämpft Assad – sowie die sich daraus ergebenden Folgen, etwa die so von Assads Joch befreiten syrischen Kurden. 

Uhl: Eben. Und durch den Staatszerfall in Syrien und im Irak wird Ankaras Kurdenkonflikt wohl akut bleiben.

Der auch bei uns ausgetragen wird.

Uhl: Um so wichtiger ist es, daß wir unter Kontrolle behalten, was diesbezüglich auf unseren Straßen passiert. Ich habe schon in den achtziger Jahren als Münchner Kreisverwaltungsreferent bei jeder Kurdendemonstration den Veranstaltungsleiter einbestellt und ihm klargemacht, daß die Demo sofort beendet ist, falls Embleme der PKK gezeigt werden. Und das wurde dann auch so gemacht. Diese Konsequenz vermisse ich heute allerdings in mancher deutschen Stadt. Und wenn sich Erdogan darüber beschwert, dann hat er damit auch recht! 

Die Frage ist aber doch, warum haben wir das Problem überhaupt im Land? Es gab genügend Warnungen, mit fremden Kulturen wanderten auch deren Konflikte ein!  

Uhl: Stimmt, und die Masseneinwanderung hat sich in der Tat als großer Fehler erwiesen. Andererseits können wir uns aber nicht abschotten. Die Globalisierung, unsere starke Exportwirtschaft, unser Europa der offenen Grenzen haben auch einen Preis. Natürlich müssen wir aber alles tun, damit sich die Probleme in Grenzen halten. Und etwas, wie 2015/16 darf sich nicht wiederholen! 

Darüber sprechen wir gar nicht, sondern über die Masseneinwanderung zuvor, die doch gewollt oder in Kauf genommen wurde; denn weder Globalisierung noch Wirtschaftsexport bedingen sie. Und vor den Gefahren offener Grenzen wurde gewarnt, die Kritiker aber als „Rechte“ stigmatisiert. 

Uhl: Es ist richtig, daß das politisch auch anders hätte organisiert werden können. Aber damals, ich erinnere mich sehr gut, wurde in Deutschland die entscheidende Frage zum Thema Gastarbeiter – die man sich in der Schweiz übrigens zu stellen wagte –, nämlich Rotieren oder Integrieren, bewußt ausgespart. Warum? Weil eine unheilige Allianz zwischen den Gewerkschaften, der Wirtschaft und den Kirchen meinte, so könne man mit Menschen nicht umgehen, und das verhinderte. Und zudem hieß es, daß alle ja freiwillig auch irgendwann wieder gehen würden. Es war der reine Selbstbetrug.

Müßte die damals hauptverantwortliche Partei, die Union, dies nicht kritisch aufarbeiten und sichtbar daraus lernen?

Uhl: Natürlich, und ich habe damals schon gewarnt, daß wir die Wirtschaft in dieser Frage nicht als unseren Verbündeten sehen dürfen! Aber es hieß, als christliche Partei dürften wir die Gastarbeiter nicht nur als Arbeitskräfte sehen.

Wo aber bleibt die Einsicht bei CDU/CSU? Setzten sie die Fehler nicht fort? Eine „Obergrenze“ von 200.000 pro Jahr – von denen realiter die meisten bleiben –, das ist doch Masseneinwanderung!

Uhl: Wir dürfen die Migrationsfrage nicht als reines Quantitätsproblem lösen. Die Frage ist doch, wer kommt. Wir benötigen Fachkräfte! Kämen 200.000 Ausgebildete pro Jahr, die wir brauchen, würde ich von einem Segen sprechen! Kommen aber 200.000 Ungebildete, ist das eine schwere Belastung, da gebe ich Ihnen recht. Zumal Abschiebungen tatsächlich ja kaum noch möglich sind. Und wenn etwa mal 27 Personen nach Afghanistan abgeschoben werden, ergehen die Medien sich in der Frage, ob das diesen Leuten zuzumuten sei. Kaum ein Wort aber darüber, daß das meist Kriminelle sind, die wegen Verbrechen wie Vergewaltigung oder Kinderschändung rechtskräftig verurteilt sind! Zudem wissen auch die Medien, daß Terroranschläge am Hindukusch da passieren, wo ausländische Diplomaten residieren und nicht in den Dörfern, wo die Abzuschiebenden in der Regel herkommen.  

Hat die aktuelle Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört, nicht auch mit dem Thema Türkei zu tun? 

Uhl: Sicher, denn die meisten Moslems bei uns sind Türken. Es geht also auch hier in gewisser Weise um die Frage des türkischen Einflusses bei uns. In der Sache frage ich: Was bedeutet „gehört zu“? Doch wohl „hat geprägt“! Der Islam aber hat Deutschland historisch gerade nicht geprägt. Meine Antwort ist also Nein. Die Moslems allerdings, die integriert bei uns leben, die gehören zu Deutschland! 

Das ist allerdings die „Split“-These, die  AfD-Chef Gauland als erster vertreten hat. 

Uhl: Mag sein, deshalb ist sie aber nicht falsch. Entscheidend ist, zu vermitteln, daß die Aussage sich nicht gegen die einzelnen Moslems richtet. 

Erdogan und die AKP haben zu Beginn ihrer Regierungszeit 2001 eine progressive Politik gemacht, sich gegen Folter und Todesstrafe gewandt, die Meinungsfreiheit gestärkt, den Dialog mit den Kurden gesucht. Wie kam es zu seiner 180-Grad-Wende? 

Uhl: Zunächst ging es darum, die Macht der repressiven Militärs zu brechen, die zuvor heimlicher Herrscher im Land waren. Das ist spätestens nach dem vereitelten Putsch 2016 vollständig gelungen. Heute finden sich unter den Asylbewerbern bei uns sogar türkische Offiziere. 

Würden Sie von einer Islamisierung der Türkei sprechen? 

Uhl: Auf jeden Fall, und zwar in einem Maße, wie das hier gar nicht so bekannt ist. Das Ganze geht schon so weit, daß die Schulen regelrecht zu Koranschulen werden, die Kinder dort also schon kaum noch etwas Vernünftiges lernen.  

Dabei war die Türkei seit Atatürk das bei weitem laizistischste moslemische Land der Welt. Überall, aber nicht dort hätte man doch mit der Rückkehr des Islam gerechnet? 

Uhl: Ja, aber offenbar können Rückfall  und Radikalisierung immer wiederkommen. Das sollte man bedenken.

Islamisiert sich mit dem Mutterland auch die türkische Gemeinschaft bei uns?

Uhl: Das wird versucht, aber ich glaube, daß wir das zu verhindern wissen.

Aber viele Medien und Politiker leugnen, daß es bei uns eine Islamisierung gibt. Wie soll sie da verhindert werden?

Uhl: Natürlich gibt es das, aber der Verfassungsschutz hat das erkannt und hält dagegen, das weiß ich durch persönliche Kontakte. Es ist aber eine typische Reaktion so mancher in der Politik – insofern gebe ich Ihnen recht – ein Problem, von dem man glaubt, es nicht lösen zu können, für nicht existent zu erklären.

Nach dem Putsch wurden hierzulande Erdogan-Kritiker von Teilen der türkischen Strukturen bei uns bedroht. Was macht Sie also zuversichtlich, daß wir der Islamisierung der hiesigen Türken wehren können? Es sieht doch nach dem Gegenteil aus!? 

Uhl: Richtig ist, daß Radikalisierung immer einfacher ist als Demokratisierung. Dennoch sehe ich die erheblichen Anstrengungen, die wir dagegen unternehmen! Ein Problem ist allerdings, daß Teile der Politik und Gesellschaft so hasenfüßig sind, sich nicht zu trauen, sich mit den problematischen Teilen der türkischen Strukturen bei uns anzulegen. 

2017 wurde bekannt, daß um die 6.000 Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT „hierzulande operieren, als ob es sich um ihr Land handelt“ („Welt“). Sogar die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering geriet in ihr Visier. Es gab Attentate auf hiesige Kurden. Der mit Geheimdienstfragen befaßte Parlamentarier Hans-Christian Ströbele nannte die Aktivitäten „unglaublich“. Seitdem hat man aber nichts mehr davon gehört. Offenbar hat sich also nichts geändert. 

Uhl: Man fürchtet das, aber ich warne: Bei aller Liberalität, Maßstab ist immer unsere wehrhafte Verfassung. Wenn wir nicht aufwachen, wird unser Kampf gegen die Verfassungsfeinde nur noch schwieriger werden. 






Dr. Hans-Peter Uhl, war von 1998 bis 2017 direktgewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis München West/Mitte. Zuletzt profilierte er sich als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses gegenüber den Medien als Fachmann der Unionsfraktion in Sachen Türkei. Ursprünglich Innenpolitiker, war der Jurist von 2005 bis 2014 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Innenpolitik und innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. Geboren wurde der Rechtsanwalt, der seit 1970 der CSU angehört, 1944 im württembergischen Tübingen. 

Foto: Präsident Recep Tayyip Erdogan vor der Flagge der Republik Türkei: „Islamisierung in einem Maße, wie das bei uns in Deutschland gar nicht so bekannt ist. Das Ganze geht schon so weit, daß die Schulen regelrecht zu Koranschulen werden, die Kinder dort also schon kaum noch etwas Vernünftiges lernen“ 

 

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