© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Aufruf zum bewaffneten Kampf
1968: Das Attentat auf Rudi Dutschke vor fünfzig Jahren führte zu einer weiteren Radikalisierung
Karlheinz Weißmann

Auf der ersten Seite der ersten Ausgabe der Zeit des Jahres 1968 erschien ein Kommentar mit dem Titel „Die Rebellion der Romantiker“. Marion Gräfin Dönhoff hatte ihn verfaßt. Kurz darauf sollte sie die Chefredaktion des Blattes übernehmen. Aber schon vorher gehörte „die Gräfin“ zu den einflußreichsten Journalistinnen der Bundesrepublik. Das hatte seine Ursache auch darin, daß sie verkörperte, was man in den Nachkriegsjahren als Bestand an guter Tradition betrachtete, jenseits der katholisch-rheinisch-abendländischen Linie: Sie hatte zum Umfeld des 20. Juli gehört, verteidigte grundsätzlich die „preußischen Werte“, war unter abenteuerlichen Umständen aus ihrer ostdeutschen Heimat geflohen, befürwortete aber den Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße und bezog nach der Spiegel-Affäre eine Position, die „liberal“ in dem Sinne war, daß die Sympathie im Zweifel der Linken galt.

Die Erwartung, daß der Spuk bald vorbei sein werde

Diese Tendenz war auch dem erwähnten Artikel zu entnehmen, der mit erkennbarem Wohlwollen von den jungen Leuten sprach, die Dönhoff gequält sah durch ein Gefühl von „Entfremdung, das Ausgeliefertsein an die Herrschaft anonymer Bürokratien, die Verlogenheit einer Gesellschaft, deren moralische Maximen zu Klischees geworden sind“ und deren Verzweiflung angesichts der Sinnlosigkeit des Daseins man „nachempfinden“ könne, so wie man die Verzweiflung eines Franz Kafka, eines Albert Camus, eines Samuel Beckett nachempfinden könne.

Das Theoriebewußtsein und den Marxismus der rebellischen Studenten nahm die Verfasserin allerdings nicht ernst. Für sie waren sie Jugendbewegte wie die Wandervögel an der Wende vom 19. zum 20. oder die Burschenschafter Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch wenn sie pathetisch die Aufklärung in Anspruch nahmen, hatte man es ihrer Meinung nach mit Romantikern zu tun.

In dieser Feststellung kam Herablassung zum Ausdruck, verbunden mit der Erwartung, daß der Spuk bald vorbei sein werde. Eine Erwartung, die sich nicht erfüllen sollte, was seine Ursache auch in den dramatischen Veränderungen hatte, die das Jahr 1968 kennzeichnen sollten.

Da waren auf der einen Seite jene Ereignisse, die für die sich zuspitzende „Krise des Spätkapitalismus“ sprachen: in den USA die Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King im April 1968, dann des neuen demokratischen Hoffnungsträger Robert F. Kennedy im Juni, die Demoralisierung der amerikanischen Truppen in Südostasien, auch wenn das Massaker von My Lai (JF 12/18) erst nach Monaten bekannt wurde, die zunehmende Brutalität, mit der die Herrschenden – etwa in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern – gegen jede Opposition vorgingen und nicht zuletzt der Biafra-Konflikt. Er hatte eine Hungerkatastrophe zur Folge, die wegen der permanenten Fernsehberichterstattung zum kollektiven Schock für die westliche Wohlstandsgesellschaft werden sollte.

Da waren auf der anderen Seite jene Vorgänge, die man für Vorzeichen der kommenden Revolution hielt: der Aufbau immer weiterer militanter Gruppen anarchistischer, maoistischer, irgendwie antiautoritärer Ausrichtung, die Wahl des Reformkommunisten Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär der tschechoslowakischen KP, der für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu stehen schien, die Entstehung einer Friedensbewegung mit Massenbasis in den USA, aber auch die Vorstöße der schwarzen Nationalisten aus den Reihen der Black Panther Party, der Beginn des Partisanenkampfes der Roten Khmer in Kambodscha und die Erfolge der Tet-Offensive des Vietcong.

Drei Wochen nach deren Beginn, am 17. und 18. Februar 1968, fand in an der Technischen Universität in West-Berlin der von Rudi Dutschke, dem informellen Führer der Außerparlamentarischen Opposition (APO), organisierte Vietnam-Kongreß statt. Auf dem Plakat, das zur Veranstaltung einlud, reckte ein Partisan des Vietcong siegesgewiß das Gewehr in die Höhe. Im Hintergrund des Auditorium Maximum der TU hatten die Veranstalter eine große Vietcong-Fahne aufgespannt, dazu die Parole Che Guevaras: „Für den Sieg der vietnamesischen Revolution – Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen!“

Die Creme der europäischen Linksintelligenz – Ernst Bloch, Helmut Gollwitzer, Eric Hobsbawm und Bertrand Russell, Jean-Paul Sartre, Luchino Visconti, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini – solidarisierte sich oder schickte Grußbotschaften. Dutschkes Freund Gaston Salvatore sprach über die Notwendigkeit des „Volkskriegs“ gegen den Imperialismus und kritisierte die traditionellen kommunistischen Parteien, weil sie denen, die den offenen Kampf aufnehmen wollten, die Solidarität verweigerten. Bahman Nirumand, ein Exiliraner, der ganz wesentlich an der Organisation der Anti-Schah-Proteste im Vorjahr beteiligt gewesen war, setzte sich mit den „Konzentrationslagern“ für das öffentliche Bewußtsein auseinander, die die Medien, insbesondere der Springer-Konzern, errichtet hatten.

Sprengstoff-Anschläge auf US-amerikanische Schiffe

Dann kam Dutschke, der über „Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf“ sprach und erklärte, die studentische Opposition stehe „nicht gegen einige ‘kleine Fehler’ des Systems, sie ist vielmehr eine totale, die sich gegen die ganze bisherige Lebensweise des autoritären Staates richtet.“ Es gehe darum, den „heutigen Faschismus“ niederzuringen und die „kulturrevolutionäre Übergangsperiode“ hinter sich zu lassen. Das konnte man als Aufruf zum bewaffneten Kampf verstehen.

Wie sich Dutschke dessen Organisation vorstellte, blieb allerdings im Dunkeln. Seinen Plan, nach Abschluß des Kongresses amerikanische Kasernen zu stürmen und die GIs zur Erhebung aufzufordern, hatte er jedenfalls aufgeben müssen. Stattdessen erwog er, mit einer von dem italienischen Unternehmer und Linksterroristen Giangiacomo Feltrinelli beschafften Ladung Sprengstoff Anschläge auf US-amerikanische Schiffe zu verüben. Soweit kam es nicht, aber zwei Wochen nach dem Kongreß, am 29. Februar 1968, flogen Dutschke und Nirumand nach Frankfurt, um dort einen Sabotageakt gegen den Sender American Forces Network (AFN) auszuführen, der nur aufgrund „technischer Schwierigkeiten“ scheiterte.

Von alldem ahnten die Teilnehmer des Vietnam-Kongresses wenig. Aber sie enthusiasmierte die Erwartung des Großen, das kommen sollte. Am letzten Tag zog eine Demonstration mit mehr als 12.000 Menschen durch die West-Berliner Innenstadt. Sie trugen rote und Fahnen des Vietcong und große Bilder der Kommunisten Leo Trotzki, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Ernst Thälmann und Che Guevara. Man hakte sich in langen Reihen unter, rief „Ho Ho Ho Tschi Minh“ oder „Wir sind eine kleine, radikale Minderheit“, um dann im Laufschritt gegen die Polizeiketten anzurennen. 

Nur hielt diese Hochstimmung der Februartage nicht an. Die von der Kernorganisation der APO, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), angetriebene Kampagne gegen den Springer-Verlag stockte, die Kaspereien der Kommunarden behielten zwar ihre Attraktivität für die Medien, entfalteten aber keine politische Wirkung im eigentlichen Sinne. 

Währenddessen machte sich unter den Genossen Kritik an Dutschke breit, dem man seine Prominenz neidete und dem man Starallüren vorwarf. Der war verletzt und reagierte mit der überraschenden Idee, als Berufsrevolutionär zu pausieren und samt Frau und Kind in die USA zu gehen, um dort an seiner Dissertation zu arbeiten. Manches spricht dafür, daß sich der verbleibende Elan, wie Dönhoff erwartet hatte, rasch erschöpfen würde. Aber dazu kam es nicht. Eine Ursache dafür war das Attentat auf Dutschke am 11. April 1968, das zu einer bis dahin unbekannten Mobilisierung und Radikalisierung der jungen Generation, vor allem der Studenten, führte. Eine zweite lag in der Heftigkeit, mit der der „rote Mai“ in Frankreich und Italien tatsächlich an den Rand eines Systemzusammenbruchs führte.

Aufstandsbereite verliefen sich in den Semesterferien

So bestimmte die Revolutionsnaherwartung noch den Frühsommer. Aber dann wurde das ganze Ausmaß der Desorientierung und Kopflosigkeit der Rebellion unübersehbar. In der Bundesrepublik und West-Berlin war nicht nur der Ausfall Dutschkes von Bedeutung, sondern auch der Beginn der langen Semesterferien. Die Aufstandsbereiten verliefen sich. Dann kam die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August, die Gegenoffensive der US-Armee in Vietnam, der sukzessive Zerfall des SDS, der Pyrrhussieg der Linken in der „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968 und die Fluchtbewegung der meisten Rebellen, entweder in die Tradition des Marxismus-Leninismus-Stalinismus oder in den Terror oder die zögernde Bereitschaft, sich die Charmeoffensive der Etablierten – allen voran der SPD und der FDP – genauer anzusehen.

Man konnte deshalb am Ende des Jahres 1968 der Auffassung sein, daß trotz der unerwarteten Verschärfung die Analyse Dönhoffs einiges für sich hatte. Aber die Weiterblickenden taten das nicht. Zu ihnen gehörte Richard Löwenthal, der als Professor am Otto-Suhr-Institut der FU im Zentrum des Geschehens gestanden hatte, aber auch eine biographische Erfahrung besaß, die ihn hellsichtig machte.

Als junger Mann war Löwenthal zu Beginn der dreißiger Jahre selbst linker Aktivist gewesen, ein unorthodoxer Linker zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, wie die Achtundsechziger überzeugt, daß es nur auf den Willen einer entschlossenen Minderheit ankomme, um die Revolution voranzutreiben. Der Vergleich war seiner Meinung nach erhellend, lieferte auch eine Erklärung dafür, wieso die APO zu „Anfang viele Widerstände überrannt hat gegenüber einer überraschten Öffentlichkeit und einer überraschten Staatsgewalt“ und „sich daraus, in einem zweiten Stadium, eine Art Kult der Gewaltsamkeit, der direkten Aktion herausbildet. Die Vorstellung, daß man alle erreichen könnte, daß man sehr schnell eine Revolutionierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erreichen könnte durch die unmittelbare Gewalt. Diese Erwartung ist dann ziemlich schnell enttäuscht worden, ist zusammengebrochen. Auf den Rausch der sogenannten Massengewalt ist der Katzenjammer gefolgt.“

Daß das nicht das Ende des Anlaufs bedeutete, erklärte auch Löwenthal mit einem Bezug auf die Romantik, aber das, was er den „Romantischen Rückfall“ nannte, hatte wenig mit Schwärmerei zu tun, viel mit Voluntarismus und Wirklichkeitsfremdheit, die letztlich in Terror oder Resignation enden würden oder zu einer neuen Variante der Subversion führen konnten, die es sich zur Aufgabe machte, die bestehende Ordnung von innen her zu zerstören.





Dutschke-Attentat

Es ist der 11. April 1968, etwa gegen 16.30 Uhr. Schüsse peitschen über den Berliner Kurfürstendamm. Drei Kugeln treffen den Studentenführer Rudi Dutschke, zwei in den Kopf, eine in die Brust. Er ist lebensgefährlich verletzt. Am Vormittag dieses Tages hatte er noch dem SFB-Mitarbeiter Wolfgang Venohr auf die Frage, ob er sich bedroht fühle, geantwortet: „Normalerweise fahre ich nicht allein rum. Es kann natürlich irgendein Neurotiker oder Wahnsinniger mal ‘ne Kurzschlußhandlung durchführen.“ Dutschke wird ins Krankenhaus gebracht, eine Notoperation rettet ihm das Leben. Kurz nach dem Attentat verhaftet die Polizei den Täter Josef Bachmann, einen rechtsradikalen Hilfsarbeiter und DDR-Flüchtling, der am Morgen nach Berlin gereist war. Er wird wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft verurteilt. Am 24. Februar 1970 nimmt er sich im Gefängnis das Leben. Rudi Dutschke leidet an den Spätfolgen des Attentats. Am 24. Dezember 1979 ertrinkt er nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne. Beigesetzt wird er auf dem St.-Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem. (tha)