© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Armut, Hartz IV und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit
Relativ gesehen
Jost Bauch

Bereits seit den Anfängen der modernen („bürgerlichen“) Gesellschaft wird periodisch über Fragen von Armut, sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit diskutiert. Berühmt wurde unter anderem die Schrift von Jean-Jacques Rousseau über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahre 1755, der die Bildung von Eigentum als Ursache von Armut und sozialer Ungleichheit identifizierte. In dieser Frage manifestiert sich seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft ein institutionalisiertes schlechtes Gewissen bis hin zu den bekannten sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsentwürfen.

So ist es nicht verwunderlich, daß angesichts zunehmender Einkommens­ungleichheit auch heute wieder die Armuts- und Gerechtigkeitsfrage auf der Agenda steht. Im Rahmen des scharfen Winds der Globalisierung ist es mit der deutschen Gemütlichkeit einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) wohl endgültig vorbei. Jüngst ist eher beiläufig von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) diese Debatte um gesellschaftliche Armut erneut angeschoben worden. Es genügte dessen Hinweis, daß der Bezug von Arbeitslosengeld-II-Leistungen („Hartz IV“) nicht automatisch Armut bedeute – sofort setzte ein „Shitstorm“ der linken Politprominenz und der bürgerlichen Entrüstungsliteraten ein, die vom Skandal des Vorhandenseins von Armut in einem reichen Land reden und so die bekannte Betroffenheitsrhetorik in Gang setzten.

Dabei hat Spahn zunächst recht: Von durchschnittlich 783 Euro für einen Alleinstehenden pro Monat; von 1.672 Euro für eine(n) Alleinerziehende(n) von zwei Kindern pro Monat kann man leben. Natürlich nicht auf großem Fuß, mit Einschränkungen, aber es geht. Die Grundbedürfnisse des Lebens werden mit diesen Beträgen abgedeckt, nicht mehr und nicht weniger. Das ist ja auch der Sinn von Sozialhilfe.

Bei der Debatte um Armut geht es im wesentlichen darum, welchen Armutsbegriff man der Diskussion zugrunde legt. Formal-soziologisch gesehen ist derjenige arm, wie der letzte klassische Soziologe Georg Simmel schrieb, „dessen Mittel zu seinen Zwecken nicht ausreichen“. Dabei muß man differenzieren zwischen absoluter und relativer Armut. Hartz IV reicht allemal, um absolute Armut zu verhindern, also objektive Notlagen (Obdachlosigkeit, Hunger etc.). Die Diskussion beginnt bei relativer Armut (in der Fachsprache der Soziologie: relative Deprivation). Denn hier spielen gesellschaftliche Bewertungen von Armut eine Rolle, es geht um (subjektive) Vorstellungen von Gratifikationen, die im Vergleich zu anderen Personen angemessen erscheinen.

Schon der französische Philosoph und Sozialist Georges Sorel hat gewußt, daß die Furcht der Herrschenden vor der Gewalt der Massen der bestimmende Faktor ihrer Sozialpolitik ist. Auch heute hat Hartz IV diese Befriedungs- und Ruhigstellungsfunktion.

Allein schon aus statistischer Sicht ist der Armutsbegriff relativ: Als arm gilt, wer nur über 50 Prozent des Median­einkommens (mittleres Einkommen) der Bevölkerung verfügt. Würden in Deutschland die 200 reichsten Familien auswandern, würden viele Menschen nicht mehr arm sein, ohne einen Cent mehr zu erhalten, weil durch diese Auswanderung das Durchschnittseinkommen fiele. Bei relativer Armut geht es um die Annahmebereitschaft einer Gesellschaft, ein bestimmtes Ausmaß von sozialer Ungleichheit hinzunehmen. Diese Ungleichheit nimmt man nur hin, wenn ein „Mindest-Warenkorb“ von gesellschaftlichen Leistungen zusammengestellt wird, von dem kein Mensch ausgeschlossen werden kann. Man ermittelt über einen fingierten gesellschaftlichen Konsens ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Inklusion, weil es sonst leicht zu „Exklusionsverkettungen“ kommen kann, die sich dann in sozialen Protesten Ausdruck verschaffen.

Neueste Berechnungen zeigen: Die sogenannte „Armutsgefährdungsschwelle“ liegt bei 60 Prozent des Median­einkommens, das sind im Bundesland Sachsen 866 Euro. Zählt man nun den Regelbedarf eines Hartz-IV-Empfängers mit der Erstattung der Wohnkosten zusammen, so erhält ein Single 846 Euro. Es bleibt eine Differenz von 20 Euro. Bei einer Familie mit zwei Kindern sieht das schon anders, nämlich erheblich besser aus. Die Armutsgefährdungsschwelle liegt hier bei 1.818 Euro, und die Familie bekommt (Regelbedarf und Wohngeld) 2.046 Euro, also ein Plus von 228 Euro. Doch auch diese Armutsgefährdung muß man relativ sehen. Die Armutsgefährdungsschwelle bei 60 Prozent des Medianeinkommens anzusetzen ist recht hoch. Es bleibt dabei: Es handelt sich bei Hartz IV immer um relative Armut, leben kann man von den Sätzen.

Schon der französische Philosoph und Sozialist Georges Sorel hat gewußt, daß die Furcht der Herrschenden vor der Gewalt der (proletarischen) Massen der bestimmende Faktor ihrer Sozialpolitik ist. Auch heute hat Hartz IV diese „Befriedungs- und Ruhigstellungsfunktion“. Jede Form von Sozialhilfe steht dabei vor einem Dilemma: Einerseits muß sie den Empfängern das Gefühl geben, nicht ganz verstoßen und stigmatisiert zu sein, damit sich die Unzufriedenheit nicht zu asozialem Verhalten oder gar Revolten aufschaukelt; auf der anderen Seite darf die Sozialhilfe nicht zu üppig ausfallen, weil es dann keine Differenz zu Beschäftigungsverhältnissen der unteren Lohngruppen gibt. Der Anreiz für Erwerbsarbeit würde entfallen, was für eine selbsternannte Leistungsgesellschaft nicht unproblematisch wäre.

Das bedeutet, daß der Spielraum für Sozialhilfe sehr eng ist. Gerade angesichts des geringen unteren Lohnniveaus können die Hartz-IV-Sätze eben nicht, wie wünschenswert das auch immer wäre, großartig angehoben werden. Daß dies mit Härten gerade bei den Verlockungen der Konsumwelt in den Ballungszentren verbunden ist und eine äußerst disziplinierte Lebensführung voraussetzt, an der viele scheitern, ist nicht von der Hand zu weisen.

Sicherlich kann man an der jetzigen Hartz-IV-Konstruktion vieles bemängeln. Da ist die Frage, ob die bloß einjährige Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I (also bevor jemand in Hartz IV fällt) einigermaßen gerecht geregelt ist, da kann man sich über die ausufernde Bürokratie und überflüssige Gängelung des Beziehers aufregen; aus Sicht des Klienten alles richtig und ärgerlich, wenn man in den Mühlen dieser Bürokratie einmal drinsteckt.

Jede Form von sozialer Hilfe steht vor dem Problem, daß sie zwischen Bürokratie und Ungerechtigkeit oszilliert. Will man eine exakt dosierte Hilfeleistung an der richtigen Stelle, so müssen die Voraussetzungen der Gewährung sehr genau überprüft werden.

Auf der anderen Seite kann es nicht sein, daß Sozialleistungen ohne jegliche Kontrolle verteilt werden, schließlich sind diese Leistungen über Steuergelder (also über das Geld anderer Leute) finanziert. Ein „Anrecht auf die Gabe zu haben“ (Georg Simmel) heißt auch, sich der Frage nach der Berechtigung des Erwerbs der Gabe zu stellen. Jede Form von sozialer Hilfe steht vor dem Problem, daß sie zwischen Bürokratie und Ungerechtigkeit oszilliert. Will man eine exakt dosierte Hilfeleistung an der richtigen Stelle, so müssen die Voraussetzungen der Gewährung sehr genau überprüft werden. Will man eine unbürokratische Gewährung, muß man hinnehmen, daß Unberechtigte in den Genuß sozialer Hilfeleistungen kommen.

Das zeigt sich insbesondere bei den angedachten Alternativen zu Hartz IV. Bei dem von der Linkspartei teilweise geforderten „Bedingungslosen Grundeinkommen“ als auch beim eher neoliberalen „Bürgergeld“ kommt es darauf an, wie bedingungslos die Gewährung im Einzelfall ist. Klar ist: Je bedingungsloser, um so ungerechter. Auch zeigt sich, daß die angedachten Grundeinkommen nur wenig von den Hartz-IV-Sätzen nach oben abweichen. Das kann auch gar nicht anders sein, weil sie sonst jegliche Motivation zur Beschäftigung untergraben.

Für die Zukunft mag die Frage nach einem Grundeinkommen durchaus virulent werden. Sie stellt sich dann neu, wenn tatsächlich durch Digitalisierung und Automatisierung der Kollege Roboter in der Produktion von Sachgütern und Dienstleistungen massiv Einzug hält, wenn die Wertschöpfung vom „Homo faber“, vom schaffenden Menschen, abgekoppelt wird. Doch bis dahin ist noch ein Stück Weg zu gehen.

Das Problem von Hartz IV sind nicht alleine seine Leistungssätze, es ist seine Verbreitung. 5,9 Millionen erwachsene und 1,6 Millionen minderjährige nichtbeschäftigte Menschen bei insgesamt 43,4 Millionen Beschäftigten leben von Hartz IV. Das ist entschieden zuviel. Die Zahlungen von Hartz IV sind immer noch so hoch, daß es für viele Zuwanderer attraktiv ist, in die sozialen Sicherungssysteme dieses Landes einzuwandern (7,7 Prozent der Deutschen, aber über 18 Prozent der ausländischen Bevölkerung sind „Hartzer“). Auch und gerade für Hartz IV und erst recht für die angedachten Konzepte eines Grundeinkommens gilt, daß sich offene Grenzen und soziale Sicherungssysteme nicht vertragen. Würde man in dieser Frage restriktiver vorgehen, könnte man sogar die Hartz-IV-Sätze erhöhen.

Obwohl die wirtschaftliche Situation gut ist und die Beschäftigtenzahlen steigen, hat dies wenig Auswirkung auf den Bestand von Hartz-IV-Beziehern. Der Verdacht verstärkt sich, daß es sich bei den „Hartzern“ um ein mittlerweile eigenes soziales Milieu handelt, das wenig mit dem Arbeitsmarkt und der gesellschaftlichen Entwicklung interagiert. Eine solche Verfestigung wäre schlecht, ist aber sicherlich politisch nicht durchweg unwillkommen. Der Soziologe Helmut Schelsky stellte den selbständigen den betreuten Menschen gegenüber. Der „Hartzer“ ist ohne Zweifel der durchregulierte und vom Staat abhängige Mensch. Dieser „anproletarisierte“ Bürger (Untertan) entspricht dem politischen Zeitgeist mehr als der selbständige Bürger, der nicht auf staatliche Gelder angewiesen ist.






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Lust des Almosengebens („Helfen als Passion“, JF 5/18).

Foto: Die Agentur für Arbeit zahlt Arbeitslosengeld I, das Jobcenter ALG II (Hartz IV): Bei der Debatte um Armut geht es im wesentlichen darum, welchen Armutsbegriff man zugrunde legt: den der absoluten Armut mit Hunger und Not oder den der relativen Armut.  Da beginnt dann die Diskussion