© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Pankraz,
John Cairns und das Ende der Menschen

Zu den heikelsten, umstrittensten Theorien des verstorbenen Astrophysikers Stephen Hawking gehörten seine Prognosen über den „wahrscheinlichen Untergang der Menschheit schon in den nächsten Jahrhunderten“. Das Ozonloch, so seine Voraussage, wird immer größer, und vielleicht fällt die Menschheit eines Tages tatsächlich hinein. Die Gelassenheit, mit der das behauptet wurde, erzürnte viele Zeitgenossen. Ja, sagten sie, Gelassenheit ist eine erstrangige Tugend der Wissenschaft, und Hawking ist dafür berühmt. Aber alles habe eben seine Grenzen.

Manche Ökologen und erklärten Naturfreunde hörten die Botschaft allerdings mit Genugtuung, weil Hawking ausdrücklich darauf hinwies, daß der Untergang der Menschheit nicht dasselbe sei wie der Untergang der belebten Natur auf der Erde im ganzen; sie sei sehr viel strapazierfähiger als die Menschheit. Das leuchtete ein, wissen wir doch aus vielen Naturfilmen, daß es das Leben fertigbringt, selbst in schlimmsten Wüsten, in denen sich kein Mensch auf Dauer halten kann, zu „überwintern“ und sich fortzupflanzen.

Fast jeder kennt ja mittlerweile die schier abenteuerlichen Bilder von Pflanzensamen, Fischen, Kröten, die sich angesichts der Trockenheit eingraben und regelrecht für die Ewigkeit verpuppen – um dann, wenn doch einmal Regen fällt, explosionsartig wieder hervorzutreten und in kürzester Zeit sowohl Ressourcen-Wiederherstellung als auch Nachkommenaufzucht zu erledigen. Das sind Biotechniken, von denen unsere modernen  Laborwissenschaftler noch äonenweit entfernt sind und die sie wohl nie erlernen werden, auch wenn sie nicht ins Ozonloch fallen.


Die Natur verhält sich nicht ethisch, das garantiert ihr den großen Vorsprung vor dem Menschen. Sie beseitigt erbarmungslos Bildungen, die sich nicht anpassen wollen oder  können, aber natürlich auch nicht freiwillig abtreten wollen. Das gilt auch für den technischen Menschen.  Es ist viel wahrscheinlicher, daß die Natur den Menschen auslöschen wird, bevor dieser dazu kommt, die lebendige Natur auszulöschen. Er wird, Ozonloch hin oder her, keine Gelegenheit bekommen, die Erde in eine bloße Müllhalde aus nicht recycelbaren Plastikmassen und Elektroschrott zu verwandeln.

Hier irrte Hawking also. Die Menschheit wird nicht die Zeit finden, seiner Empfehlung zu folgen und, nach erfolgter Naturpleite, auf andere Gestirne auswandern. Die Natur wird vorher zuschlagen. Seuchen im Stile der großen europäischen Pest von 1346/47 sind denkbar, gegen die es kein Impfserum geben wird, tödliche genetische Kontaminierungen, rapide Klimaveränderungen von den Dimensionen der großen Eiszeiten.

John Cairns (1923–2017), der berühmte amerikanische Zoologe, hat vor einigen Jahren in der Zeitschrift Science ein Szenario entworfen, was passieren würde, wenn die Menschheit durch eine hausgemachte Katastrophe zur Gänze weggeräumt würde. Seine Erzählung ist nicht nur unterhaltsam und gut zu lesen, sondern sie liefert auch manches interessante, neuartige Detail zum Thema Wiederauferstehung und paßt somit nicht schlecht in österliche Zeiten, besonders wenn die nach eiskalten, nicht enden wollenden Wintern sehnsüchtig erwartet werden.  

Zuerst, schreibt John Cairns, werden sich die neugierigen Gänse und Enten in die leeren Häuser vorwagen, um nachzusehen, was denn passiert sei; es folgen Eichhörnchen, Singvögel, Kaninchen; auch sie wollen die neue Lage erst einmal inspizeren. Aber Füchse und Koyoten plündern sogleich Lebensmittellager, stürzen Mülltonnen um, raufen sich mit Waschbären um die besten Überreste. Schon zwei Jahre später haben Gräser den Asphalt der Autobahnen und Straßen flächendeckend gesprengt, nach vier Jahren fangen Bäume an, auf Hochhäusern zu wachsen.


Es geschieht eine regelrechte Explosion der Pflanzen, was nach etwa zwanzig Jahren zu einem Kälteschock führt: also weniger CO2 in der Luft, mehr Wasser in der Atmosphäre. Gewaltige Sturmfluten entstehen, die beispielsweise den Broadway in New York in einen reißenden Fluß verwandeln. Jene Tiere, die vom Menschen abhängig geworden waren und ihn ihrerseits ausgebeutet haben, fangen schnell an, auszusterben, also Ratten, Mäuse, Kakerlaken, Bettmilben – während sich Schafe, Schweine, Rinder und Hunde wieder in ihre ursprünglichen Wildformen zurückverwandeln.

Spätestens in tausend Jahren, versichert Cairns, sei kaum noch etwas von der menschlichen Zivilisation übrig. Sämtliche Städte haben sich dann in von undurchdringlichem Dickicht überwucherte Felslandschaften verwandelt. Auf der Nordhalbkugel haben sich riesige Prärien ausgebreitet, die wieder – wie in alten Sioux- und Winnetou-Zeiten – von ungeheuren Bisonherden durchzogen werden. Cairns nennt das „die Rückkehr des Paradieses“ und hat damit den Beifall vieler naturbegeisterter Leser auf sich gezogen.

Das ist natürlich ein apokalyptisch-ästhetischer Menschenstandpunkt. Ob es die Natur, das Leben, in diesem „Paradies“ aushalten würde, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wenn dem Leben, wie Hans Jonas und andere moderne Teleologen vermuten, eine Tendenz zu „Höherem“, zu Selbstreferenz und geistiger Verdoppelung der Welt, innewohnt, dann würde es auch wieder zur Bildung von Menschheit, von Logos und Glaube und neuer Kultur kommen. Dem Leben, sagt Hans Jonas, ist die Kultur gleichsam als objekive Sehnsucht beigegeben. Deshalb das Streben nach dem „höheren“ Menschen.

Freilich, eine „neue“, eine „höhere“ Menschheit, vermutet Pankraz, würde sich im Wesentlichen nicht von der alten unterscheiden. Wer nach „Höherem“ strebt, die Natur also gleichsam zu übersteigen versucht, der verstrickt sich in seinsbedingte unauflösbare  Widersprüche, macht naturgegeben schwere Fehler, begeht schlimme Sünden. Ein Ostern im christlichen Sinne ist in der Natur nicht vorgesehen. Der Mensch als Naturwesen braucht in jedem Fall Beistand aus transzendenten Sphären.