© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Wahrheiten per Erlaß
Polens umstrittenes „Holocaust-Gesetz“ im Kampf der Geschichtspolitik
Stefan Scheil

In Europa wird einmal mehr gekämpft. Wie früher geht es dabei auch diesmal um die Identität von Völkern und Regionen, nur diesmal ganz besonders scharf, unter der Aussicht auf ein möglicherweise finales Ende, in dem für beide kein Platz mehr sein könnte. Daher wird nicht nur um die Zukunft und die Gegenwart gestritten, sondern seit langer Zeit besonders um die Vergangenheit. 

Aus vergangenen Jahrhunderten eine eigene Geschichte abzuleiten, ist unverzichtbarer Bestandteil von europäischer Identität. Denn ohne diese Generalperspektive läßt sich der seit etwa zwei Jahrzehnten auf Gesetzesebene tobende Streit über Meinungen zu bestimmten historischen Ereignissen wohl kaum verstehen. Man muß schon deutlich vor dem in vielfacher Weise so segensreichen Jahr 1990 geboren sein, um sich mittlerweile noch an Zeiten erinnern zu können, in denen zumindest westlich des Eisernen Vorhangs einfach jeder über Geschichte gefahrlos sagen konnte, was er wollte. Inzwischen beharken die Staaten sich gegenseitig und ihre Einwohner mit einer Inflation von Leugnungsgesetzgebungen und parlamentarischen „Anerkennungen“ eigener oder fremder Völkermorde. Als Konsequenz finden sich des öfteren Personen lange Jahre hinter Gittern, die nichts weiter als eine Meinung zu diesen Dingen geäußert haben, oft nicht einmal eine pointierte. Ein Ende ist nicht abzusehen.

In diesem Februar 2018 bestimmte die Republik Polen die Schlagzeilen in dieser Angelegenheit. Trotz internationaler Aufregung und hitzigen Drohungen verabschiedete zunächst das Parlament und unterzeichnete dann der Präsident ein Gesetz, das in der Presse weltweit als „Holocaust-Gesetz“ präsentiert wurde. Bis zu drei Jahre soll nun künftig in Haft genommen werden können, wer die „Ehre der Republik und der Nation“ dadurch angreift, daß er ihr Verstöße gegen das 1945 von den Alliierten erlassene „Londoner Statut“ vorwirft. Darin wurden im wesentlichen die Vorbereitung von Angriffskriegen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu strafbaren Handlungen erklärt.

Die Berufung auf das Londoner Statut ist im polnischen Gesetzeskanon nicht neu. Eine erste Bestimmung, die darauf Bezug genommen hat, wurde bereits 1947 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Auch das kommunistische Polen kannte Strafen für unerwünschte Meinungsäußerungen, selbstverständlich.

Polens historische Unschuld ist nun juristisch definiert

Der erneute Bezug auf das alliierte Statut zeigt aber gleich, wie deutlich das Etikett „Holocaust-Gesetz“ den Umfang der neuen Gesetzgebung verfehlt. Zwar hatte die Debatte oberflächlich zunächst deshalb an Fahrt aufgenommen, weil die polnische Regierung sich verständlicherweise über die in Mode gekommene Redewendung von „polnischen Konzentrationslagern“ als Bezeichnung für die von der deutschen Besatzungsmacht zwischen 1939 und 1945 auf dem Boden der heutigen Republik Polen eingerichteten Konzentrationslager ärgerte. Diese Floskel suggerierte eine Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen, die Polen als Staat und Nation nun einmal nicht zukam.

Diesen Ärger wirklich in Gesetzesform zu gießen, war keine Selbstverständlichkeit, lag aber angesichts der geschilderten internationalen Verhältnisse nah. Doch geht der Gesetzestext eben deutlich darüber hinaus, weshalb die maßgebende Passage hier zitiert sei, die in praktisch keinem deutschsprachigen Medium wiedergegeben wurde: „Wer immer öffentlich und wahrheitswidrig behauptet, die Republik Polen oder die polnische Nation seien verantwortlich oder mitverantwortlich für vom Dritten Reich begangene Nazi-Verbrechen, wie sie im Artikel 6 der Satzung des Internationalen Militärtribunals im Anschluß an das am 8. August 1945 in London unterzeichnete Internationale Abkommen zur Verurteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse beschrieben werden, oder für andere Vergehen, die Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen, oder wer die Verantwortung der wahren Verbrecher für diese Vergehen herabsetzt oder bestreitet, ist zu einer Geld- oder Hafstrafe bis zu drei Jahren zu verurteilen.“

Kurz und gut: Polen soll historisch unschuldig sein, an was auch immer und keineswegs nur an Verbrechen zwischen 1939 und 1945. Ausnahmen von dieser Regelung sieht das Gesetz in weiteren Abschnitten für Äußerungen vor, die aus Versehen gefallen sind. In diesem Fall muß nur mit Geldstrafe oder „Einschränkung der Freizügigkeit“ gerechnet werden, was immer letzteres heißen soll. Weitere Ausnahmen werden für Äußerungen zugestanden, die aus der Berufstätigkeit als Künstler oder Wissenschaftler hervorgehen. Sie werden formal sogar straffrei gestellt. Was aber die hier geschützte  „Wissenschaft“ oder „Kunst“ denn im Einzelfall sei, wird dann in Zukunft vor Gericht beurteilt werden müssen, also bei der denkbar falschesten Adresse.

Erste Auswirkungen des Gesetzes sind umgehend eingetreten. Bundesdeutsche Historiker etwa, besonders, wenn „universitär vernetzt“, sind ohnehin nicht dafür bekannt, die Wahrheitsliebe über die Sorge um das eigene Wohl und die Karriere zu stellen. Schon die bloße Möglichkeit, sich sogar für die liebgewonnenen akademischen Spekulationen über anderer Leute Verbrechen rechtfertigen zu müssen, die in Deutschland seit zwanzig Jahren zielführend an die Stellen, die Fleischtöpfe und die Drittmittel führen, weht sie daher weg wie ein lauer Sommerwind das trockene Laub des letzten Jahres. 

Der SPD-nahe und bei der sozialdemokratisch durchsetzten Willy-Brandt-Stiftung attachierte Bernd Rother etwa ließ seine Kollegen in einem Rundbrief wissen, er würde seinen erst im Dezember 2017 auf einer Tagung in Warschau gehaltenen Vortrag nicht zur Veröffentlichung freigeben. Weitere Bedenkenträger und Tagungsteilnehmer schlossen sich umgehend an, und es fällt dem neutralen Betrachter etwas schwer, hier in jedem Fall wirklich Bedauern zu empfinden. Hat doch der gleiche Personenkreis die Kriminalisierung von abweichenden Meinungsäußerungen zur neueren Zeitgeschichte bisher überwiegend mitgetragen, solange es nur nicht die eigenen waren.

Gegenmaßnahme für die nationale Selbstbehauptung

Scharfe Kritik an der neuen Gesetzeslage kam aus Israel und den Vereinigten Staaten. Die US-amerikanische Historikervereinigung verurteilte die erneuerten Vorschriften als forschungsfeindlich. Krachende Töne waren vor allem aber aus Israel zu hören. Schnell erreichten sie die offizielle Ebene, sind doch die jüdischen Vorwürfe an die polnische Adresse seit Jahrzehnten weitaus heftiger, als dies regelmäßig von außen wahrgenommen wird. Hinweise von dort, es habe schließlich zweifelsfrei zahlreiche polnische Täter gegeben, konterte kein Geringerer als Polens Premier Mateusz Morawiecki mit der drastischen Bemerkung, es habe ebenso jüdische Täter gegeben. Später zog er das teilweise zurück, aber der Vorgang illustriert die aufgeheizte Atmosphäre.

Moshe Zimmermann, früherer Professor in Jerusalem und Mitautor des Phantasiestücks „Das Amt“, in dem er nebst seinen Mitstreitern mal so eben ohne nennenswerten Quellennachweis dem deutschen Auswärtigen Amt die Initiative für den Holocaust zuschob, sah in Polen „eine Grenze überschritten“. Geschichte sei ein „Erziehungsinstrument“, Leugnungsgesetzgebung sei in diesem Zusammenhang nur dort erlaubt, wo Meinungen lebensgefährliche Folgen haben könnten, also auf Holocaustleugnung zu beschränken.

Letztlich sind dies alles Nebenwirkungen dessen, was sich seit dem Zusammenbruch des Ostblocks überall in Europa als „Geschichtspolitik“ etabliert hat. Einzelne Staaten und die Europäische Union bestimmen und fördern nicht nur, was sie für ein wünschenswertes Bild der Vergangenheit halten. Nein, immer häufiger sehen sich Abweichler von der allgemeinen Tendenz zugleich mit dem Strafrecht bedroht. 

Die Republik Polen hat hier nun zu Gegenmaßnahmen zum Zweck der nationalen Selbstbehauptung gegriffen. Das ist nicht schön, der Inhalt selbst nicht immer wahrheitsgemäß und deshalb auch nicht im Sinn objektiver Erforschung der Vergangenheit. Aber es fällt nach den Vorgängen der letzten 25 Jahre wirklich schwer, jemanden in der anerkannten westlichen Geschichtswissenschaft zu erkennen, der sich darüber ehrlich aufregen könnte. Im Kampf gegen die nationalen Identitäten und bei der Erfindung von Kollektivschuld hat sich die amtliche Geschichtswissenschaft viel zu lange vor den politisierten Karren spannen lassen.