© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Chinas Machtzuwachs und die geopolitischen Implikationen
Einflußsphären anerkennen
Erich Weede

Chinas Wirtschaft wächst schneller als andere große Volkswirtschaften. Ende der siebziger Jahre war das Größenverhältnis zwischen der amerikanischen und der chinesischen Wirtschaft in der Nähe von zehn zu eins, das zwischen der Sowjetunion und China bei vier zu eins. Wenn man kaufkraftbereinigte Daten verwendet, hat die chinesische Wirtschaft 2014 die Größe der amerikanischen erreicht. Wenn alles für China gutgeht, könnte sie in den 2020er Jahren irgendwann 50 Prozent größer als die amerikanische sein und in den 2030er Jahren vielleicht doppelt so groß. Schon jetzt ist die chinesische Wirtschaft mehr als sechsmal so groß wie die russische.

Natürlich leidet China unter Problemen. Die Überalterung ist fast so schlimm wie in Deutschland. China ergraut, bevor es reich werden kann. Der Männerüberschuß könnte zur politischen Destabilisierung beitragen. Der autokratische Charakter des Regimes birgt Gefahren. Zwar wachsen Autokratien im Durchschnitt weder schneller noch langsamer als Demokratien, aber Autokratien neigen zu Extremen, wie China seit 1979 mit seinem Wirtschaftswunder oder wie nach dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1961), als über 40 Millionen Chinesen verhungerten.

Verglichen mit Autokratien, die Wunder und Katastrophen erzeugen, neigen die Demokratien zu solider Mittelmäßigkeit. Während die jetzt reichen westlichen Länder schon vor ihrer Demokratisierung sichere Eigentumsrechte für Produzenten und Kaufleute hatten, hinkt China da nach. Aber China hat seit einiger Zeit politischen Wettbewerb zwischen untergeordneten Ebenen – Provinzen oder Bezirken oder Städten – zugelassen. Dieser Wettbewerb hat die lokalen und regionalen Behörden gezwungen, Unternehmer so zu behandeln, als ob sie deren Eigentumsrechte respektieren wollten. Wie lange dieses funktionale Äquivalent für sichere Eigentumsrechte oder den Rechtsstaat funktioniert, bleibt abzuwarten.

Trotz dieser Risiken spricht viel dafür, daß China auch in Zukunft schneller als der Westen wächst, langsam wohlhabender und stetig mächtiger werden wird. Denn ärmere Länder können schneller als reichere Länder wachsen. Sie verfügen über Vorteile der Rückständigkeit. Sie können Technologien von fortgeschritteneren Volkswirtschaften übernehmen, noch viele Arbeitskräfte aus einer wenig produktiven Landwirtschaft in Industrie und Dienstleistungsberufe umsetzen und kaufkräftige Märkte anderswo günstig beliefern. Vielleicht sind die traditionellen chinesischen Werte eher mit einer Leistungsgesellschaft kompatibel als die postmodernen Werte im Westen. Für China spricht auch seine Humankapitalausstattung. Verglichen mit anderen Ländern auf ähnlichem Entwicklungsniveau funktioniert das chinesische Bildungssystem gut.

Unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung wirtschaftlicher in militärische Stärke kann Autokratie ein Vorteil sein. Demokratien müssen auf die Wähler und deren begrenzte Belastungsbereitschaft Rücksicht nehmen. Chinas Regierung 

ist da freier. 

Jedenfalls ist nur China ein plausibler Herausforderer für die dominierende Weltmacht, die USA. Wirtschaftliche Macht ist noch keine militärische und politische Macht, aber auf Dauer deren Voraussetzung. Schon heute verfügt China nach den USA über das zweitgrößte Verteidigungsbudget. Es ist ungefähr doppelt so groß wie das russische. Unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung wirtschaftlicher in militärische Stärke kann Autokratie sogar ein Vorteil sein. Demokratien müssen auf die Wähler und deren begrenzte Belastungsbereitschaft Rücksicht nehmen. Chinas Regierung ist da freier. Die Sowjetunion hatte gezeigt, daß eine wirtschaftlich schmale Basis bei entsprechendem Machtwillen für die Herausforderung der Weltmacht Amerika ausreichte.

Wie ein amerikanischer Politikwissenschaftler, Graham Allison, gezeigt hat, ist die Rivalität aufsteigender Mächte und verglichen damit stagnierender Platzhalter in den letzten fünfhundert Jahren meist blutig ausgegangen. Er hat sogar die Schätzung gewagt, daß es in drei Vierteln aller vergleichbaren Fälle zum Krieg gekommen ist. Ohne diese Schätzung überzubewerten – ein künftiger Krieg zwischen den USA und der schnell aufstrebenden Macht China ist zu befürchten.

Großmächte haben immer Einflußsphären beansprucht. Das gilt für China, das schon in der Kaiserzeit ganz Ostasien als seine Einflußsphäre betrachtet hatte, auch wenn die Gefolgschaft der Nachbarn oft eher rituell als substantiell war. Seit dem 19. Jahrhundert haben die USA die ganze westliche Hemisphäre als ihren Einflußbereich angesehen, wobei es am Anfang vorwiegend darauf ankam zu verhindern, daß andere Großmächte dort Einfluß gewinnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die amerikanische Einflußsphäre nach Europa und nach Japan und Südkorea ausgedehnt. Zum Ausbruch des Koreakrieges hatte auch die Unklarheit darüber beigetragen, ob die Amerikaner Südkorea wirklich dauerhaft als Teil ihrer Einflußsphäre beanspruchten. Am Ende des Koreakrieges der fünfziger Jahre ging es auch um die Abgrenzung der amerikanischen und der chinesischen Sphäre.

Von allgemeiner Bedeutung sind folgende Punkte: Erstens ist die Weltpolitik schon lange durch den Kampf der Großmächte um Einflußsphären gekennzeichnet. Zweitens zeigt der Unterschied zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Einflußsphäre in Europa den qualitativen Unterschied zwischen Einflußsphären. Die Westeuropäer suchten den Schutz Amerikas vor den Sowjets, die Osteuropäer mußten sich den Sowjets unterwerfen. Drittens hat die Abgrenzung der Einflußsphären in Europa am Eisernen Vorhang die erweiterte Abschreckung beziehungsweise den „Frieden durch Furcht“ (vor dem Atomkrieg und der gegenseitigen Vernichtung) ermöglicht.

Heute gilt vielen im Westen das Konzept der Einflußsphären als überholt, fast schon als Hinweis auf die moralische Verwerflichkeit dessen, der es benutzt. In Moskau oder Peking schließt man aus dieser westlichen Ablehnung des Denkens in Einflußsphären nicht auf ein höheres moralisches Niveau im Westen, sondern entweder auf einen Mangel an Realismus oder darauf, daß die USA und der Westen keine Grenzen ihres Einflusses akzeptierten, also die ganze Welt als ihre eigene Einflußsphäre beanspruchten. Ende des 20. Jahrhunderts hatte George Kennan, der Vater der amerikanischen Containment-Doktrin, vergeblich davor gewarnt, daß die Nicht-Respektierung einer russischen Einflußsphäre durch die Nato-Osterweiterung einen neuen Kalten Krieg auslösen würde.

Wenn den Chinesen klar wird, daß die USA nur defensiv, durch den Aufbau einer Raketenabwehr in Nordostasien, auf die Nuklearrüstung Nordkoreas reagieren, werden sie ihre eigenen Entscheidungen in bezug auf Nordkorea treffen.

Auch in Ostasien trägt die mangelnde Bereitschaft der Amerikaner beziehungsweise des Westens, in Einflußsphären zu denken und Grenzen des eigenen Einflusses zu akzeptieren, zur Verschärfung internationaler Spannungen bei. Seit dem Koreakrieg ist klar, daß China Nordkorea als Einflußsphäre beansprucht. Wenn Amerika und der Westen diesen Anspruch vorbehaltlos akzeptieren könnten, dann würde das nordkoreanische Atomrüstungsprogramm vom amerikanischen zum chinesischen Problem. Die Eskalationsgefahr zu einem großen Krieg würde reduziert, wenn die Chinesen statt der Amerikaner für die atomare Entwaffnung Nordkoreas zuständig würden. In Anbetracht der chinesischen Erfahrungen mit der ehemals verbündeten Sowjetunion 1969 am Ussuri und mit dem ehemals verbündeten Vietnam nach der Eroberung des Südens durch den Norden an der chinesisch-vietnamesischen Grenze muß den Chinesen klar sein, daß die Alliierten von heute das Problem von morgen sein können.

Mit anderen Worten: Die Chinesen können kein Interesse an einem atomar gerüsteten Nordkorea haben. Wenn sie auf einen Regimewechsel in Nordkorea hinarbeiten, besteht keine Gefahr der Eskalation zu einem großen Krieg. Wenn die Chinesen einen nuklear gerüsteten Nachbarstaat wollen – sie haben bis vor kurzem so getan, als ob sie das wollten –, dann kann der Westen das nicht ohne untragbar große Risiken vermeiden, sollte es also hinnehmen.

Für den Westen gibt es keine akzeptable Alternative. Verhandlungen haben in der Vergangenheit nichts gebracht. Das könnte in Zukunft so bleiben. Ein amerikanischer Präventivschlag würde vermutlich einen nordkoreanischen Angriff auf Südkorea und ein Blutbad dort auslösen, vielleicht sogar zu einem schwer kontrollierbaren amerikanisch-chinesischen Konflikt eskalieren. Den USA bleibt nur eine Politik der Abschreckung Nordkoreas und vielleicht der Versuch, eine Raketenabwehr in Zusammenarbeit mit Japan und Südkorea aufzubauen. Gegen schwache nordkoreanische Kräfte hätte eine Raketenabwehr bessere Erfolgsaussichten als gegen stärkere Atommächte. Wenn den Chinesen klar wird, daß die USA nur defensiv, durch den Aufbau einer Raketenabwehr in Nordostasien, auf die Nuklearrüstung Nordkoreas reagieren, werden sie ihre eigenen Entscheidungen in bezug auf Nordkorea treffen. Der Westen sollte dabei Zuschauer sein.

Der Aufstieg Chinas hat den unipolaren Moment, den die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion genossen, beendet. Es wird Zeit, die westliche und vor allem die amerikanische Sicherheitspolitik dem abnehmenden weltwirtschaftlichen Gewicht der USA und des Westens anzupassen. Die Anerkennung von Einflußsphären fremder Großmächte dient vor allem dem Schutz vor eigenen Illusionen und eigener Überforderung.






Prof. em. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Angela Merkel und die „Kunst des Möglichen“ (JF 25/17).

Foto:Dollar gegen Yuan auf dem Spielfeld: Der Aufstieg Chinas hat den unipolaren Moment, den die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion genossen, beendet. Die amerikanische Sicherheitspolitik sollte sich daran anpassen. Die Anerkennung von Einflußsphären fremder Großmächte dient dem Schutz vor eigenen Illusionen und Überforderung.