© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Im Dschungel des Verbrechens
Das US-Kriegsverbrechen im vietnamesischen Dorf My Lai 1968 erschütterte Amerikas Ruf nachhaltig
Elliot Neaman

Der Aphorismus von der Wahrheit als erstem Opfer des Kriegs klingt so glaubwürdig, daß er immer wieder gerne zitiert und dabei den verschiedensten Urhebern zugeschrieben wird, nicht zuletzt dem griechischen Dichter Aischylos. Früher oder später kommt die Wahrheit dennoch ans Licht. 

Das Massaker an Hunderten Zivilisten in den drei vietnamesischen Dörfern My Lai, Binh Tay und My Khe am 16. März 1968 war der bislang schwerste Übergriff dieser Art in der Geschichte der US-Streitkräfte. Angaben über die Zahl der Ermordeten schwanken – auf der Tafel am Eingang der offiziellen Gedenkstätte sind 504 Namen aufgeführt. Einzelheiten über das von zwei Regimentern der US-Infanterie verübte Massaker – zunächst im Armee-Slang nach der Farbe der Reisfelder als „Pinkville Massacre“ bezeichnet – gelangten erst im Herbst 1969 an die Öffentlichkeit. 

Die Morde von My Lai standen zeitlich wie kausal in der unmittelbaren Folge der sogenannten Tet-Offensive im Januar 1968. Zwar hatte die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams (von den Amerikanern als Vietcong bezeichnet) bei ihrem massiven Überraschungsangriff keinen entscheidenden Durchbruch erzielen können. Ihre Offensive erwies sich dennoch als durchschlagender Erfolg an der Propagandafront, indem sie die Illusionen des amerikanischen Fernsehpublikums zerstörte, dem vorgemacht worden war, der Sieg über den Vietcong stehe kurz bevor. 

Die Gegenoffensive der US-Streitkräfte im Februar und März konzentrierte sich auf Vernichtungsmissionen in der Provinz Quang Ngãi, die für die Amerikaner mit hohen Verlusten verbunden waren. So hatte die Kompanie C (Charlie) Mitte März bereits vierzig Soldaten eingebüßt. In den frühen Morgenstunden des 16. März nahm die US-Artillerie mit Unterstützung von Kanonenbooten die drei Dörfer unter Beschuß. Anschließend zog die Kompanie C unter Befehl von Hauptmann Ernest Medina ein. Über den genauen Wortlaut der Befehle, die er seinen Männern erteilte, liegen widersprüchliche Aussagen vor – in jedem Fall wurde den Soldaten offenbar zu verstehen gegeben, daß sämtliche Dorfbewohner, selbst Kinder, als potentielle feindliche Kämpfer zu behandeln seien. Die Einwohner waren mit dem Aufbau des Wochenmarkts beschäftigt und wirkten nicht sonderlich beunruhigt über das Auftauchen der Amerikaner. 

Zentrum des Massakers war Tu Cung – ein Gemeindebezirk des Dorfes Xom Lang, das auf den Karten der US-Armee fälschlicherweise als My Lai verzeichnet war –, wo Leutnant William Calley die Erschießung von etwa achtzig Männern, Frauen und Kindern anordnete. In den anderen Ortschaften kam es zu ähnlichen Massakern und Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen. Am Folgetag brannten Soldaten der Kompanien Bravo und Charlie Dutzende von Hütten nieder und erschossen die fliehenden Bewohner kaltblütig. Zwar beteiligten sich nicht alle Soldaten an den Kriegsverbrechen, jedoch erstattete auch keiner von ihnen Meldung an die Vorgesetzten.  

Daß die Übergriffe letztlich doch an die Öffentlichkeit drangen, war einem Hubschrauberpiloten zu verdanken, der Augenzeuge des Gemetzels wurde und versuchte, Hilfe für die Verwundeten herbeizurufen. Hugh Thompson Jr. kehrte gegen 11 Uhr zu seinem Stützpunkt zurück und meldete die Übergriffe seinen Vorgesetzten, woraufhin ein Befehl an die beteiligten Einheiten erging, den Einsatz abzubrechen. Offiziell wurden die Massaker zunächst als erfolgreiche Säuberungsaktion bezeichnet, bei der 128 nordvietnamesische Kommunisten getötet worden seien. Einigen der beteiligten Soldaten wurden Orden verliehen. 

Ronald L. Ridenhour, ein weiterer Zeuge, der den Schauplatz wenige Tage nach den Massakern aus der Luft gesehen hatte, schrieb nach seiner Rückkehr in die USA im März 1969 dreißig Kongreßabgeordnete mit der Forderung nach einer Ermittlung an. Parallel dazu stellte der Journalist Seymour Hersh eigene Ermittlungen an und brachte die Geschichte der Vorfälle am 12. November nach einem Interview mit Calley bei einer Nachrichtenagentur. Eine Woche später berichteten mehrere Zeitschriften und Fernsehsender darüber. 

Beteiligte US-Soldaten  bekamen Orden verliehen

Letztendlich wurde im Zusammenhang mit dem Massaker selbst und seiner anschließenden Vertuschung Anklage gegen 26 Männer erhoben. Schuldig gesprochen wurde nur ein einziger: William Calley, der am 31. März 1971 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und am nächsten Tag auf Verfügung von Präsident Richard Nixon aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt wurde. 1974 erfolgte seine endgültige Begnadigung. Hauptmann Medina wurde von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen.  

My Lai war weder der erste noch der letzte Verstoß amerikanischer Soldaten gegen die in der Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 definierten „Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“. Jedoch kommt dem Massaker im kollektiven Gedächtnis vieler Amerikaner eine besondere Bedeutung zu. Die Debatte über den Umgang des Militärs mit der Ermittlung sowie über die Frage, ob weitere Schuldsprüche hätten erfolgen müssen, ist bis heute nicht abgeschlossen. 

Aus Sicht der Gegner des Vietnamkriegs war My Lai lediglich ein Extrembeispiel für die unter der Nixon-Regierung begangenen Kriegsverbrechen: die Lügen gegenüber der Bevölkerung über das Ausmaß der Bombenangriffe auf Vietnam, Laos und Kambodscha und die dabei eingesetzten Vernichtungswaffen und -strategien. Aus Sicht der Fürsprecher des einfachen Soldaten mußte William Calley als Sündenbock für die Entscheidungen von Politikern und Generälen herhalten, die Amerika in einen aussichtslosen und sinnlosen Krieg hineingezogen hatten. 

In damaligen Umfragen sprachen sich achtzig Prozent der Befragten gegen Calleys Verurteilung aus. Jedoch begann die Grausamkeit dieser Verbrechen zunehmend am Gewissen der amerikanischen Öffentlichkeit zu nagen. Die Massaker vom März 1968 wurden vor allem deshalb als so schockierend wahrgenommen, weil sie in krassem Gegensatz zu dem heroischen Bild des US-amerikanischen GI standen, das in der Populärkultur, in Filmen, Büchern und Zeitschriftenartikeln über die Männer der „greatest generation“ entstanden war, die im Zweiten Weltkrieg den Kampf gegen den Faschismus geführt und gewonnen hatten. Die kaltblütige Erschießung von alten Männern, Frauen und Babys, deren Leichen in Bewässerungsgräben landeten, rief hingegen Erinnerungen an Kriegsverbrechen deutscher Einsatzkommandos im Osten wach, wo jüdische Dorfbewohner mitten in der Nacht aus ihren Häusern getrieben und gnadenlos erschossen wurden. 

Eine weitere Gemeinsamkeit lag in der Weigerung vieler der an den Kriegsverbrechen Beteiligten, die eigenen Taten einzugestehen und die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen. William Calley hat sich bis heute nie bei den Hinterbliebenen der Massaker vor fünfzig Jahren entschuldigt. Zwar soll er 2009 bei einer Veranstaltung der gemeinnützigen Organisation Kiwanis Club gesagt haben, es vergehe kein Tag, an dem er nicht Reue für das Leiden der Opfer empfinde. Er fügte jedoch sofort hinzu, er habe „lediglich auf Befehl gehandelt“. Auf die Frage, ob das Befolgen eines rechtswidrigen Befehls nicht ebenfalls eine rechtswidrige Handlung darstelle, sagte er: „Davon bin ich überzeugt. Wenn Sie mich fragen, warum ich mich nicht geweigert habe, die Befehle zu befolgen, dann kann ich dazu nur sagen, daß ich als Leutnant die Befehle befolgte, die ich von meinem Vorgesetzten erhielt – wahrscheinlich war das töricht.“

Foto: 1970 entdeckte Fotografie einer Vietnamesin mit Kind vor ihrer Ermordung in My Lai 1968; brandschatzende US-Soldaten in Vietnam: Am Gewissen nagend