© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Heute schon wissen, was morgen auf uns zukommt
Deutsche Nachkriegsgeschichte: Der Historiker Joachim Radkau wirft einen Blick auf die Zukunftsprognosen von 1945 bis heute
Volker Kempf

Ein Déjà-vu kann einen beschleichen, wenn man Joachim Radkaus Werk „Geschichte der Zukunft“ zur Hand nimmt. Eric Hobsbawm hatte 1998, ebenfalls bei Hanser, mit „Wieviel Geschichte braucht die Zukunft“ ein ähnliches Buch vorgelegt. Aber es handelt sich um eine Ergänzung. Hobsbawm nahm eine universalhistorische Perspektive ein, Radkau geht es um „Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute“. 

Am Anfang des Wiederaufbaus Deutschlands stand der Marshallplan. Das ist gängige Meinung. Doch für das Wirtschaftswunder war dieser Plan nicht entscheidend, er wurde aber für Zukunftserwartungen an die Entwicklungshilfe zum Mythos. Tatsächlich hat die Entwicklungshilfe jedoch nicht das gebracht, was der Marshallplan in Deutschland gebracht haben soll. So einfach ist das mit der Zukunft eben nicht. 

Ludwig Erhard wird als ein realistischer Optimist in Sachen „Wirtschaftswunder“ in Erinnerung gerufen, aber er war auch ein Skeptiker gegenüber einem mehr und mehr Kompetenzen an sich ziehenden Europa (im Sinne der EU). Adenauer habe die Wirtschaftsgemeinschaft gegen seinen Wirtschaftsminister Erhard durchgesetzt. Ob dieser Prozeß der EU-Kompetenzerweiterung so weitergehe, das sei heute die Frage, aber historisch noch nicht abschließend zu beantworten. 

„Atomsperrvertrag“, „Gründung des Weststaates“, Spiegel-Affäre oder Rente im Umlageverfahren lauten die weiteren Themen. Was letzteres betrifft, so gilt eine Geburtenrate von mindestens zwei Kindern je Frau als erforderlich. Adenauer habe hier Sicherheit ausgestrahlt, sei aber von der Unwandelbarkeit der menschlichen Natur gar nicht überzeugt gewesen. Mehr Kinder für die Rente? Das sei eine Forderung, die immer gleich an die Nationalsozialisten erinnere. Pronationalistische Kräfte hätten es vor diesem Hintergrund nicht leicht, ihre Zukunftsvision an politische Maßnahmen für mehr Geburten zu knüpfen. 

Das ist im Schnelldurchlauf nur ein unvollständiger Auszug von Themen aus dem ersten von zwölf Kapiteln. Weiter geht es mit den Agraraussichten, einem Gebiet, zu dem Eric Hobsbawm meinte, der Niedergang des Bauerntums sei der wohl welthistorisch einschneidendste Vorgang. Der Siegeszug der Intensivierung der Landwirtschaft habe Agrarüberschüsse mit sich gebracht. Das sei gut gegen den Hunger in der Dritten Welt. Der Sozialdemokrat Fritz Baade, der Leiter des Kieler Instituts für Wirtschaft war, blies in das gleiche Horn. Daß Agrarüberschüsse in der Dritten Welt den dortigen Markt kaputtmachen war hier wie da keine Perspektive wert. Kern der Botschaft, traue keinem Lobbyisten und auch nicht jedem „Guru“ eines Wirtschaftsinstituts. 

Aber kein Grund, auf die linken Öko-Gurus zu hören, die Ausländer pauschal als Bereicherung betrachten Das mußte in Enttäuschung umschlagen, weil die Wirklichkeit eine andere ist. Originell ist Radkaus Verknüpfung von Multikulti und Biodiversität, zwei Begriffe, die wie Zauberworte Problemwahrnehmungen und Zukunftsvisionen miteinander verknüpften, etwa 1992 beim Umweltgipfel in Rio. Daß Herbert Gruhl in „Himmelfahrt ins Nichts“ da nicht so optimistisch war, stimmt sicher. Aber das Ende „sofort“ gekommen sah er auch nicht. Da fehlte Radkau dann doch die Zeit, um bei der Fülle des Materials alles zu lesen, denn hier geht es nur um die Zukunftsvision eines stattfindenden Niedergangs mit einer weiter wachsenden Weltbevölkerung mit einem Horizont von damals hundert Jahren.   

Viele weitere Themen erwarten den Leser, etwa die Bildung, die vom Traditions- zum Zukunftsbegriff mutiert sei. Das allerdings verspricht nichts Gutes, da Begriffe von der Zukunft meist mit Wunschwelten behaftet waren, wenn sie Traditionen ablösen sollten. 

Radkau hat ein kompaktes, dichtgedrängtes Werk vorgelegt, das aber immer auch für eine Überraschung gut ist.

Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. Hanser Verlag, München 2017, gebunden,  544 Seiten, 28 Euro