© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Alte Meister und junge Mädchen
Künstlerische Korrektheit: Um das in New York hängende Bild „Thérèse, träumend“ des Malers Balthus ist eine Kontroverse entbrannt
Sebastian Hennig

Die Tugendwächter machen Genüsse verdächtig, vor denen ihre Erlebnisfähigkeit kapituliert. Sie scheint ein grundsätzliches Mißtrauen gegen unregulierte Quellen der Freude umzutreiben. Nun sind die Sturmtruppen des Ressentiments in die heiligen Hallen der Kunst vorgedrungen, wo die Eigenart künstlerischer Entäußerung vormals aufgrund deren Scheu oder Gleichgültigkeit zugleich auch vor dem Einspruch der Menge geschützt war. Diese Kluft ist längst mit blasiertem Smalltalk überbrückt, und weite Teile der Medien vermitteln jedem das Gefühl mitreden zu können.

Die sozialistische Kulturpolitik wollte die werktätigen Massen auf die Höhen der Kunst führen. Statt dessen wurden die Höhenzüge abgetragen und eingeebnet. An ihrer Stelle erstreckt sich eine Spielwiese für jeden Naseweis. Im Empörungsschwung der Edathy-Affäre forderte 2014 ein offener Brief die Berliner Gemäldegalerie dazu auf, ein Meisterwerk von Caravaggio wegen der „unnatürlichen und aufreizenden Position“ des dargestellten Knaben zu entfernen, die „zweifellos der Erregung des Betrachters“ diene. Gedachter Besucher ist offenbar nicht für die Werte künstlerischer Darstellung sensibilisiert und läßt sich statt dessen von beiläufigen Themen in Rage bringen. Die Kuratoren und Kunstwissenschaftler sollten ihn wie Ärzte und Apotheker vor den Nebenwirkungen warnen, anstatt seinem Kunstmißbrauch Vorschub zu leisten.

Das Konzept für eine Packungsbeilage zu „Thérèse, träumend“ (1938) von Balthasar Klossowski de Rola, genannt Balthus (1908–2001), hat nun Mia Merrill dem Metropolitan Museum vorgeschlagen: „Einige Besucher finden dieses Bild beleidigend oder verstörend aufgrund der künstlerischen Neigung des Malers zu jungen Mädchen.“ Die dreißigjährige New Yorkerin hatte mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Anna Zuccaro vorigen Herbst das Museum besucht und bald darauf eine Internet-Petition gegen das Ausstellen des Bildes gestartet. Das käme unbeabsichtigter Unterstützung von „Voyeurismus“ gleich und mache Kinder zu Objekten. Die Sexualität eines Kindes werde romantisiert. Ausdrücklich nicht gefordert wird, das Bild zu zerstören oder zu zensieren. Es gehe lediglich darum, es „für die Massen zu kontextualisieren“. Unterzeichnet wurde die Petition bis heute von 11.600 Unterstützern.

Dabei zeigten sich die Schwestern bei ihrem Rundgang unberührt von dem übrigen Treiben, zum Beispiel von François Bouchers schlüpfriger „Toilette der Venus“ (1751), Lucas Cranachs „Urteil des Paris“ (1528), auf dem zwei bis ans Kinn eingerüstete Herren drei splitternackte Jungfrauen taxieren, oder Gian Lorenzo Berninis „Bacchanal“ (1616), wo drei minderjährige Knaben einen alten Faun necken.

Laszive Posen auf über zweitausend Polaroids

So wie jedes Bild seine Entstehungsgeschichte hat, kommt auch die Petition sicher nicht aus der Laune des Augenblicks. Merrill ist Mitinhaberin von Firmen mit so vielsagenden Namen wie Nomad Financial und Candide Entrepreneur. Ihre Schwester gründete vor zwei Jahren Unbendable Media. Unter dem Credo unnachgiebiger Medien bündelt die Agentur Aktivisten für eine bessere Welt. Anna Zuccaro initiierte bereits eine Petition gegen Kunststoff-Strohhalme bei McDonald’s. Früher war sie für den Thinktank Council on Foreign Relations tätig, den der Elitenforscher Hans-Jürgen Krysmanski als einen der machtpolitischen Kerne des Einflußsystems der Geld- und Machteliten kennzeichnete.

Die New York Times kontrastierte die Weigerung des Museums, dem Bild eine Gebrauchsanweisung beizulegen, mit den Anforderungen an die Herstellungsbedingungen von Kaffee, Holzfußböden und Hühnerfleisch. Abgesehen davon, daß der Vergleich hinkt, ist unsere Bereitschaft zur Nachsicht gegenüber den Entstehungsbedingungen vor allem abhängig vom künstlerischen Dichtegrad des Artefakts.

Im Unterschied zu anderen Bildern, auch aus Balthus’ eigenem späteren Schaffen, hat „Thérèse, träumend“ gute Aussichten, auch in hundert Jahren in einem Museum noch am richtigen Platz zu sein. Neben der lüsternen Aufmerksamkeit für junge Mädchen eignete dem Maler nämlich auch eine für heutige Weltverbesserer mindestens ebenso bedenkliche Neigung zu den Alten Meistern.

Als Sechzehnjähriger kopiert er im Louvre Poussins „Echo und Narziß“. Zum Studium der großen Meister der Frührenaissance bereist er Italien. Masaccio, Masolino, Simone Martini, vor allem aber Piero della Francescas Fresken in San Francesco in Arezzo schlagen ihn in den Bann. Sein Künstlerfreund André Derain beschrieb ihren Antrieb: „Heute mühen wir uns nur, die verlorengegangenen Geheimnisse wiederzufinden.“ 

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Balthus in der Schweiz, wo er an einem Bild jeweils über mehrere Jahre malte. Nebenbei bannte er in seinem Chalet während eines Jahrzehnts jeden Mittwochnachmittag die Tochter des ansässigen Arztes in lasziven Posen auf über zweitausend Polaroids. Acht Jahre zählte Anna Wahli bei ihrem ersten Besuch. Eine Ausstellung der Fotos wurde 2014 vom Folkwang-Museum in Essen abgesagt. Hanno Rauterberg hatte im Dezember des Vorjahres in der Zeit geschrieben: „Zu besichtigen ist Anna: erst Lustobjekt des greisen Malers, jetzt Schauobjekt der gaffenden Menge. (…) Nein, man darf die Balthus-Fotos zeigen. Doch ob man sie unbedingt zeigen muß, bleibt fraglich. Denn handelt es sich wirklich um bedeutende Kunst?“

Die Museumsleiterin Ingrid Brugger hat diese Frage einige Zeit später bejaht und aufgrund ihrer „sehr hohen künstlerischen Übersetzungsleistung“ die Fotos im Bank Austria Kunstforum in Wien gezeigt. Balthus sei „unbestritten einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit (…) auch jenseits aller Normen“. Die Kuratorin Evelyn Benesch meinte von den Fotos, sie ersetzten „dem altersschwachen Maler die händische Skizze“.

Bei den übergriffigen Modefotografen Mario Testino und Bruce Weber ist die „künstlerische Übersetzungsleistung“ naturgemäß geringer. Ausstellungen des Fotografen Thomas Roma und des Malers Chuck Close sagte die Nationalgalerie Washington kürzlich ab. Was noch die minderen Schöpfungen im Gesamtwerk des Balthus über die berühmtesten Hervorbringungen jener erhebt, ist seine Sublimierung der Begierde. Es handelt sich um eine Kulturfrage, ob man sich durch sein Gelüst beherrschen läßt oder diese unaufgelöste Spannung erträgt und gestaltet. Die Qualität der Bilder gibt dem Betrachter Aufschluß darüber, wohin die Energie geflossen ist.

Mindestens ebenso beunruhigend wie das brünstige Zwielicht auf den Polaroids von Balthus ist die Ungewißheit über die Motive von Mia Merrill. Treibt sie ihre professionellen Planspiele mit der öffentlichen Meinung? Exekutiert die Protagonistin der New Economy ihr Vorurteil gegen die Aura einer Kunst, die sich (noch) nicht restlos durch Geldwerte erfassen läßt? Wenn es so sein sollte, dann arbeiten die Kuratoren des Spektakels, wie Brugger und Benesch, mit den Sirenen der Empörung, wie Merrill und Zuccaro, virtuos zusammen.

Wir sollten den Museen ihre Bestimmung als Orte des „interesselosen Anschauens“ (Schopenhauer) bewahren.