© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Sie sind eine rare Spezies, aber es gibt sie: Bühnenmenschen, die wie eine Naturgewalt über ihr Publikum hereinbrechen. So erlebte ich Anfang März den Schauspieler Ben Becker im Berliner Dom mit seinem Stück „Ich, Judas“. Nach einer Orgelmusik von Johann Sebastian Bach liest Becker, ganz in unschuldiges Weiß gewandet, noch sehr verhalten – die Akustik in dieser raumvoluminösen Predigtkirche ist schwierig – aus dem Matthäus-Evangelium die Worte Jesu („Einer unter euch wird mich verraten“) sowie Passagen aus dem 2015 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Judas“ des israelischen Schriftstellers Amos Oz. Doch danach läuft der Theaterschauspieler Ben Becker zu hypnotischer Hochform auf. Mit sonorer Baßstimme, lautstark und gestenreich, deklamiert er die „Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ von Walter Jens auswendig. Immer wieder wendet er sich zu dem Gekreuzigten hinter sich: Gott, warum hast du mich verlassen! Der Berliner Tagesspiegel bezeichnete die Inszenierung bei ihrer Uraufführung vor zweieinhalb Jahren als „Sakrokitsch“; Becker interessiere sich mehr für Affekte als Inhalte. Nun ja, die Welt ist voller Fehlurteile von Kritikern. Becker selbst sagte zu seinem Stück: „Es ist mehr als eine Rolle, Judas ist eine Kampfzone, ein Schlacht- und Kraftfeld, aufgeladen mit der Verachtung und Feindseligkeit der Jahrtausende.“ Er suche die „Grenzüberschreitung“. Diesem Anspruch ist er mit seiner Darstellung zweifellos gerecht geworden. Die nächsten Aufführungen von „Ich, Judas“ finden statt am 23. März im St.- Petri-Dom in Bremen, einen Tag später in der Leipziger Peterskirche und am 29. März in der Christuskirche in Bochum. 


Fundstück: „Wenn man beobachtet, wie sich ein Mensch politisch positioniert, ob er sich Mehrheiten oder Meuten anschließt, was er wegen seiner Ansichten zu riskieren bereit ist, dann erhält man zwar keinen Aufschluß über die Wahrheit, aber über Charakter.“ (Michael Klonovsky am 8. März auf seinem Online-Tagebuch „Acta diurna“)


Lektüre: Manfred Spitzers neues Buch „Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit“ (Droemer).Anfang März erschienen und als Neueinsteiger auf der Sachbuch-Bestsellerliste des Börsenblatts gleich auf Platz neun gelandet, spürt der Psychiater und Hirnforscher darin der Frage nach, warum Einsamkeit, die nicht nur Singles und Alleinstehende betreffe, sondern auch Menschen, die in einer Partnerschaft oder Familie leben, ansteckend sei und sich wie eine tödliche Epidemie ausbreite.