© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Wo die Vergangenheit Ferien macht
Chile: Kindesmißbrauch und Folter prägten die Siedlung „Colonia Dignidad“ – als „bayerisches Dorf“ schreiben die Hinterbliebenen ein neues Kapitel
Lukas Noll

Aus dem Radio ertönt ein alter Schlager: „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung“. Zum Frühstück werden Brezeln und Semmeln serviert, der Speisesaal ist mit rustikalen Nachkriegsmöbeln eingerichtet. Daß die Berge hinter den Apfelbäumen die Anden sind, fällt auf den ersten Blick nicht auf. Wer im Hotel „Baviera“ übernachtet, soll nicht nur ins ferne Bayern, sondern auch in eine 60er-Jahre-Idylle entführt werden. 

Doch dies ist gleich in doppelter Hinsicht eine Illusion: Zum einen entpuppt sich der Bezug auf Bayern als reiner Marketing-Gag, stammten die meisten Aussiedler doch aus Hessen. Zum anderen: Eine heile Welt durften die Bewohner mit ihrem eigenartigen Akzent und der altmodischen Kleidung hier niemals erleben.

Ein Wochenende fernab des Großstadtsmogs in Santiago will das Ehepaar López verbringen. Die knapp 500 Kilometer lange Fahrt ist für sie spätestens dann zur Zeitreise geworden, als sie bei Parral von der Panamericana abgefahren sind: Noch heute ist eine kilometerlange Schotterpiste die einzige Verbindung der „Villa Baviera“ zur Außenwelt. 

Während viele Gäste allein zum Ausspannen kommen, wissen die beiden Chilenen um die Vergangenheit des „bayerischen Dorfes“. Zum Glück hat ihr Reiseführer mehr zu erzählen als nur „Alemania“-Klischees. Das ferne Deutschland hat Jürgen Szurgelies ohnehin nie gesehen, dafür kennt er die „Villa Baviera“ wie seine Westentasche: Ob zum kultigen Feuerwehrbulli, der riesigen Legebatterie oder der alten Wäscherei – zu jedem seiner Stopps weiß der 51jährige eine kleine Anekdote zu berichten. 

Als Szurgelies hier geboren wurde, hieß die Anlage noch „Colonia Dignidad“ – ein Name, der die Kluft zwischen Schein und Realität nicht weiter spannen könnte: Im Glauben daran, im fernen Chile Erdbebenopfern zu helfen, waren rund 300 deutsche Freikirchler dem Jugendpfleger Paul Schäfer 1961 in Schiffen über den Atlantik gefolgt. 

Ein Leben „da draußen“ – für viele nicht vorstellbar 

Doch statt einer „Kolonie der Würde“ erwartete die Sektenmitglieder in Südamerika eine auf Zwangsarbeit und totaler Überwachung basierende Terrorherrschaft. Während Schäfer die „Colonia“ der Außenwelt als autarke deutsche Dorfgemeinde präsentierte, waren hinter ihren Zäunen Folter und Kindesmißbrauch alltäglich. Ein „Drittes Reich im Kleinformat“ hat es einer genannt, dem die Flucht gelang. Das System hielt sich fast vierzig Jahre – bis der Sektenführer selbst es war, der nach polizeilichen Ermittlungen die Flucht antreten mußte.

Auch Szurgelies hat fünfmal versucht zu entkommen. Jedesmal landete er wieder in den Fängen der Sekte und wurde mit grausamer Folter gefügig gemacht. Heute zieht er ein Bein nach, seine, die Peiniger haben ihn zum Gehbehinderten gemacht. Doch daß er stehenbleibt, hat einen anderen Grund.

„Kinder im Krankenhaus“ steht auf einem Schild mit Schwarzweißbildern, auf dem sich die Ambulanz der Villa Baviera mit über 2.500 Geburten rühmt. Weil die deutschen Einwohner keine eigenen Kinder bekommen durften, hätten sie ihre Liebe eben anderen Kindern entgegengebracht, ist ohne weitere Erklärung zu lesen. Szurgelies’ Erlebnisse verschweigt die Tafel. „Hier bekamen wir Elektroschocks an die Genitalien verabreicht“, beginnt er zu erzählen. „Damit wir vergessen würden, was Paul Schäfer uns nachts angetan hat.“ 

Es ist merklich der unangenehmste Teil seines Rundgangs, doch Szurgelies gibt sich gefaßt. Wo chilenische Kinder als PR-Aktion gegenüber dem Staat kostenlos behandelt wurden, stellte man die Mißbrauchsopfer des Sektenführers mit Psychopharmaka ruhig. „Ich will meine Jugend nicht zurück“, erklärt Szurgelies in gebrochenem Spanisch. „Aber jetzt habe ich die schönste Zeit meines Lebens.“ 

Wie viele andere ist er in der Villa Baviera geblieben, ein Leben „da draußen“ kann er sich nicht vorstellen: „Früher wollte ich raus und durfte nicht“, lacht er. „Heute kann ich die Welt von hier aus sehen.“ Szurgelies hat seinen Umgang mit den Schatten der Vergangenheit gefunden. „Ich wurde bestraft, aber habe niemandem was getan. Das ist meine weiße Weste, mein Stolz.“

Anna Schnellenkamp beschäftigt die Vergangenheit auf andere Weise. Die hochgewachsene Frau wurde 1976 als eines der letzten Kinder in der „Colonia“ geboren, bevor Paul Schäfer das Kinderkriegen ganz untersagte. „Ich war alt genug, um das System noch mitzukriegen“, sagt sie. „Aber jung genug, um mein Leben noch selbst in die Hand zu nehmen.“

 Als Geschäftsführerin des Hotels „Baviera“ ist sie heute die treibende Kraft hinter der Idee, dem Dorf mit dem Tourismus eine Zukunft zu geben. „Nachdem Paul Schäfer gefaßt war, hieß es überall, unsere Tore seien geöffnet“, erzählt Schnellenkamp. „Plötzlich hatten wir Gästeanfragen, auf die wir gar nicht vorbereitet waren.“ Aus dem Versammlungshaus, in dem Schäfer noch Jahre zuvor Brandpredigten gehalten und „Sünder“ gezüchtigt hatte, wurde kurzerhand das Hotel Baviera. „Wir wollen damit zeigen, daß wir kein Staat im Staate mehr sind. Daß wir den Kontakt zur Außenwelt suchen“, sagt Schnellenkamp. 

Die Außenwelt spielt mit: In einem riesigen Zelt haben die Hotelbediensteten für eine kolumbianische Hochzeit gedeckt; dieses Wochenende ist ausgebucht. Mehr als 34.000 Gäste haben das Hotel „Baviera“ im vergangenen Jahr besucht. Statt Zwangsarbeit stehen heute Tretbootfahrten, heiße Quellen und Ausritte auf dem Programm, sogar ein Oktoberfest veranstalten die Siedler.

 Auch wenn die meisten von ihnen aus Hessen auswanderten, erweist sich die Marke Bayern als willkommener Verkaufsschlager: Wiesntracht, deutsches Bier und Kutschfahrten haben einen exotischen Charme in Südamerika, wo das Deutschlandbild in der Regel von bayerischen Traditionen bestimmt wird.

Auf dem Rasen vor der Hotelterrasse kickt ein kleiner Junge seinem Vater den Ball zu. „Gol!“ bejubelt er sein Tor, der Vater mimt den unverhofften Verlierer. Schnellenkamp schaut den beiden schweigend hinterher. Von einer Kindheit und einem richtigen „Papa“ hatte sie nicht einmal träumen können. Statt der Schulbank drückte sie den Spaten – in den Ackerboden. Die unbezahlte Schwerstarbeit hat ihr die Wirbelsäule kaputtgemacht. Auch jegliches Familienleben war tabu: „Onkel Paul“ trennte Familien nach Geschlecht und Altersgruppe, die Kinder ließ er in Unkenntnis über ihre leiblichen Eltern. „2001 saßen wir zum erstenmal mit der Familie an einem Tisch. Wir haben uns kaum getraut, was zu sagen“, erzählt Schnellenkamp. „Mit 25 habe ich das erste Mal Mutti gesagt.“ Doch das Familienglück währte nicht lange:

Als rechte Hand Schäfers wurde ihr Vater zu mehreren Jahren Haft verurteilt, zwei ihrer Brüder zog es nach Deutschland. Heute schüttelt Anna Schnellenkamp den Kopf über den blinden Gehorsam, den die Sekte Schäfer entgegenbrachte. „Er war wie Halbgott und Teufel zugleich für uns“, erzählt sie über Schäfer. „Jeder hat jeden bespitzelt und verpetzt. Alles hätten wir getan, um nur ein kleines Lob zu erhalten. Doch statt dessen gab es nur Strafen.“ Selbst Schäfers Verschwinden löste 1997 keinen sofortigen Wandel aus.

„Anfangs haben wir sogar gehofft, daß er wiederkommt. Ohne ihn geht’s ja doch nicht, dachten wir. Bis uns überhaupt einmal klar wurde, was eigentlich passiert war, hat es Jahre gedauert.“ Spätestens nach der Aufdeckung von Schäfers Kindesmißbrauch weiß heute jeder darüber Bescheid, was zwischen 1961 und 1997 geschah. „Als er 2010 hinter Gittern starb, das war eine Feier!“ erinnert sich Schnellenkamp. 

„Wir brauchen chilenische Zuwanderung“ 

Doch gerade den Älteren fällt es schwer, sich einzugestehen, mehr als die Hälfte ihres Lebens einem Verbrecher gedient zu haben. Die meisten von ihnen sind Schäfer freiwillig nach Chile gefolgt – aus unterschiedlichen Motiven: Manche schlossen sich dem Prediger aus rein religiösen Gründen an, andere sehnten sich nach einem strikt geregelten Tagesablauf. Sogar rebellische Studenten fanden sich unter den Auswanderern: Im Dienst für die Gemeinschaft sahen sie sozialistische Utopien verwirklicht. 

Paul Schäfer zeigte sich indes wenig gnädig mit linkem Gedankengut: Nachdem Chiles sozialistische Regierung 1973 durch einen Militärputsch abgesetzt worden war, überließ Schäfer seine Schuppen dem chilenischen Geheimdienst als Folterzentrum für politische Gegner. Heute erweist sich die unrühmliche Rolle während der Diktatur als Hindernis für die touristischen Ambitionen der Villa Baviera. 

„Alle paar Wochen haben wir Demos vor dem Tor: ‘Deutsche Nazis raus’ wird dann skandiert“, erzählt Schnellenkamp. „Viele wollen die Villa Baviera komplett schließen. Eine staatliche Gedenkstätte statt des Hotels.“ Als eine der Jüngeren kennt Schnellenkamp beide Seiten: Sie weiß, daß für die älteren der noch 120 Bewohner ein Leben außerhalb der Siedlung nicht vorstellbar ist – weder im fremdsprachigen Chile noch im modernen Deutschland. Auch eine Gedenkstätte lehnen viele ab: Ihren Lebensabend in Freiheit wollen sie ohne die Dauerkonfrontation mit der eigenen Vergangenheit verbringen. Doch Schnellenkamp kann auch den Protest von außen nachvollziehen.

„Wir können die Geschichte nicht übergehen. Ich verstehe vollkommen, daß Angehörige der Folteropfer einen Platz suchen, um eine Rose abzulegen. Sie sollten aber verstehen, daß auch wir Opfer sind.“ Mit einem Museum will sie den Kompromiß schaffen, die Vergangenheit zu thematisieren, ohne einen Neuanfang zu behindern. Doch dieser Vorschlag genügt den Kritikern der Villa Baviera nicht, zu geschmacklos finden viele das „Ausspannen im Folterlager“, wie eine chilenische Zeitung titelte.

Auch innerhalb der Gemeinschaft ist die Öffnung kein Konsens, manchen geht der Wandel zu schnell. „Die würden am liebsten unter sich bleiben, ohne mit Chilenen zusammenzuleben“, ärgert sich Schnellenkamp. „Aber das haben wir vierzig Jahre lang gemacht. Wer nur Deutsche um sich will, soll nach Deutschland gehen!“ Die Öffnung des Dorfes betrifft für sie nicht nur das Hotel. Auch Grundstücke und Häuser sollen an chilenische Familien verpachtet werden. „Wenn die Alten sterben, stirbt das Dorf. Um weiterzubestehen, brauchen wir chilenische Zuwanderung“, sagt sie, bis sie grinsen muß, weil ihr die Ironie ihrer Wortwahl als Deutsche in Chile selbst auffällt. 

Dann erzählt sie von einem Paar, das sich den unerfüllten Kinderwunsch mit der Adoption zweier chilenischer Kinder erfüllen konnte. „Für Schäfer wäre das der Horror schlechthin. Wir können ihm posthum keinen größeren Widerstand leisten, als uns zu öffnen.“

 www.villabaviera.cl