© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Es lebe der Wolf!
Isegrim gehört zu Deutschland: Was wir als Nation von diesen Tieren lernen können
Jürgen Weber

Wolfsweisheiten:

Liebe deine Familie,

kümmere dich um die,

die dir anvertraut sind,

gib niemals auf,

hör nie auf zu spielen.

Elli H, Radinger,

Die Weisheit der Wölfe.


Soviel steht jetzt schon fest: Migration ist das zentrale Problem des Jahrtausends. Daß das nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Tiere gilt, ist eine Tatsache, die kaum benannt und bedacht wird. Borkenkäfer, Biber, Kormorane und neuerdings vermehrt auch Wölfe geben sich in Gegenden ein Stelldichein, die von Menschen eng besiedelt sind und bestimmten sozio-ökonomischen Gesetzen gehorchen, die unsere Zivilisation für endgültig und unaufhebbar ansieht.

Dann kommt es zum vorprogrammierten Interessenkonflikt: Die einen setzen sich für die Tiere ein und wollen sie vor der Gesellschaft in Schutz nehmen, die anderen sehen in den animalischen Eindringlingen nichts als Störfaktoren. Bei den sogenannten Schädlingsinsekten ist man sich meist noch darüber einig, daß es nur den Weg der konsequenten Vertilgung geben kann. Bei den Bibern, die nicht zum jagdbaren Wild gehören, kippt gerade die Stimmung, nachdem der eine oder andere Damm in sich zusammengebrochen ist und so mancher Baum minutiös gehäckselt wurde. Die Kormorane wiederum bedrohen, wenn sie in Massen auftreten, den gefährdeten Stand des Berufsfischers und ziehen den Zorn der letzten Vertreter dieser Zunft auf sich. Der Konflikt um Ressourcen wird nicht nur zwischen Menschen ausgetragen, sondern zunehmend auch zwischen Mensch und Tier.

Der Fall des Wolfs ist anders gelagert. Zwar gibt es auch hier Futterneid zwischen Schäfern, Jägern und der vermeintlichen Bestie. Aber das ist nur die Oberfläche einer Auseinandersetzung, die sich durch eine klare Rechtsprechung, die im Einzelfall Entschädigungen vorsieht, relativ leicht lösen ließe. Der Wolf hat ein anderes Kaliber als Biber oder Kormoran. Mit ihm dringt ein mythisches Wesen in unsere moderne Lebensumwelt ein, das hierzulande als längst ausgestorben galt und seinen Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden hat.

Der Wolf ist ein uraltes Element der deutschen Geschichte und Kultur. Man begegnet ihm im Märchen („Rotkäppchen“, „Der Wolf und die sieben Geißlein“), der Mythologie, in der Kunst und Literatur: Der Wolfszahn ist eine heraldische Form, die Stadt Passau trägt den Wolf im Wappen, der Werwolf gehört zu den deutschen Fabelwesen, und so mancher deutsche Mann hört auf den Namen Wolfgang oder gar Wolf. Nicht zuletzt sind alle acht Millionen Hunde in Deutschland vom Rehpinscher bis zum Mastiff Abkömmlinge des Wolfs, der seine genetische Fährte solcherart tief in unseren Alltag hineingegraben hat. Nur weil er ein paar Jahrzehnte nicht zu unserer Lebenswirklichkeit zählte, heißt das noch lange nicht, daß der Wolf diesen Platz nicht wieder für sich beanspruchen kann.

Doch sind die Wölfe in der Lausitz und in anderen Regionen Deutschlands wirklich nur Wiedergänger, denen man auf den Pelz rücken muß? Oder stellt ihre Rückkehr nicht noch ganz andere Fragen, die man nicht allein mit dem Rückgriff auf Naturschutzregeln und Jagdgesetze beantworten kann? Erinnern sie uns vielleicht sogar an Eigenschaften, die wir nur zu gern vergessen würden?

Wer die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, mit „Ja“ beantwortet, der kann sich einer entsprechend positiven Antwort auf die Frage, ob nicht auch der Wolf zu Deutschland gehört, nicht entziehen. Nur weil der Mensch ihn ausgerottet zu haben glaubt, heißt das noch lange nicht, daß er dieses majestätische Tier für immer erledigt hat.

Die zum Teil hysterischen Reaktionen vieler deutscher Zeitgenossen auf die Wölfe sind auch ein Abstoßungsreflex gegenüber ihrer eigenen Nationalität. Man hat sich daran gewöhnt, sein Deutschsein weichzukochen und auszudampfen. Lieferando, Smoo-

thies und vegane Küche sind die neuen deutschen Insignien. Jeder stirbt in diesem Lande für sich allein. Ein Rudelwesen mit starken Rüden, weisen Fähen (weiblichen Wölfen), einer straffen Hierarchie und einem zähen Überlebenswillen paßt nicht so recht ins Bild, das man sich heute von unserem Land und seinen Einwohnern macht. Mit der Rückkehr des Wolfes kehren auch Bilder deutscher Eigenschaften an die Oberfläche des gesellschaftlichen Bewußtseins zurück, die sich zum aktuellen Diskurs querstellen, ja, die fast schon eine Zumutung zu nennen sind. Es ist weniger die Angst davor, daß die eigenen Kinder an der ländlichen Bushaltestelle einem Wolf zum Opfer fallen, als die Rückkehr einer kernigen Idee des Deutschen, die den Streit darüber, ob Wölfe hier Lebensrecht erhalten sollen, antreibt. Interessanterweise sind die einzelgängerischen Luchse, deren Spuren aufmerksame Zeitgenossen im Bayerischen Wald wieder vermehrt begegnen, von diesem Disput mehr oder weniger ausgenommen. Es ist wohl die soziale Vernetzung, die Solidarität untereinander, die hedonistischen Landsleuten, die permanent um ihren eigenen Nabel kreisen, die Wölfe suspekt macht. Es ist also weniger der Wolf, als die Wölfe, vor denen sich der Zeitgeist erschreckt in seine Talkshows, Dschungelcamps und Internetforen zurückzieht.

Der Wolf ist tot, es lebe der Wolf! Wir sollten dafür sorgen, die Diskussion um die nur scheinbar unheimlichen Raptoren mit dem grauen Fell aus der ökologischen Nische zu befreien und uns vielmehr fragen, was wir als Nation von diesen faszinierenden Tieren lernen können und an welche geschleiften und lächerlich gemachten Tugenden sie uns erinnern. Die Auseinandersetzung um die Wölfe kann dann vielleicht dazu führen, das deutsche Trauma der Zahnlosigkeit auf die Agenda zu heben. 





Wölfe in Deutschland

Die ersten in Freiheit in Deutschland geborenen Wolfswelpen wurden im Jahr 2000 gesichtet. Heute leben hier nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) und der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Wolf (DBBW) etwa 60 Rudel in Brandenburg, Sachsen, Nieder-sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Einzelne Tiere durchstreifen auch Bayern, Thüringen und Schleswig-Holstein. Die größten Wolfspopulationen siedeln auf Truppenübungsplätzen oder stillgelegten Tagebaubetrieben. „Deutschland ist wieder Wolfsland – und wird es auch bleiben“, schreibt die Wolfsexpertin und Autorin Elli H. Radinger in ihrem Bestseller „Die Weisheit der Wölfe“ (Ludwig Verlag, München 2017). Die Tiere müßten heute nicht mehr vor dem Aussterben bewahrt werden, „sondern wir lernen nun, mit ihm zu leben, sie in unsere Landschaft, unsere heimat zu integrieren“. (tha)

Weitere Informationen gibt es unter anderem beim Naturschutzbund (Nabu), der  Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf sowie auf der Netzseite der Naturforscherin und Wolfsexpertin Elli H. Radinger

 www.nabu.de

 www.dbb-wolf.de

 www.elli-radinger.de