© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Endlich die Zähne zeigen
Schweden: Wiederaufrüstung und Wiedereinführung der Wehrpflicht / Besuch beim Großmanöver Aurora 17
Gerhard Reiber

Die Angreifer kommen aus östlicher Richtung. Schweden mobilisiert seine Gesamtverteidigung: Streitkräfte, Behörden und Zivilgesellschaft. Es ist September 2017 – die größte Verteidigungsübung des Landes seit über zwanzig Jahren, Aurora 17, beginnt.

Beteiligt sind 19.000 schwedische Soldaten, rund 40 zivile Behörden sowie 1.500 Angehörige ausländischer Streitkräfte der nordischen Nachbarländer Dänemark, Norwegen und Finnland, der baltischen Länder Estland, Lettland, Litauen sowie von den Nato-Mitgliedern Frankreich und den USA.

Das Manöver ist „die Stufe 1 im Aufbau von Schwedens neuer Verteidigung“. Die Stufe 2 folge dann mit Aurora 20 im Jahr 2020, erklärte der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist. Der Sozialdemokrat begründete die Notwendigkeit dieser Übungen mit der „verschlechterten Sicherheitslage“.

Finanzielle Anreize für Rekruten  

Rußland tritt im baltischen Raum besonders mit Aktionen der Luftstreitkräfte bei Finnland und um Stockholm sowie bei der schwedischen Ostseeinsel Gotland zunehmend offensiv auf. Dies veranlaßte den Ostseeanrainer, der im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg strikt auf seiner Neutralität beharrte, zu einer sicherheitspolitischen Kehrtwende.

Schwedens einst sehr starkes Militär wurde als Folge des Unterganges der Sowjetunion unter Aussetzung der Wehrpflicht bis auf ein Skelett ausgedünnt. Die Wiederaufrüstung, samt Wiedereinführung der Wehrpflicht im März 2017, findet seit etwa drei Jahren statt.

Zusätzlich besteht seit 1995 eine Gesamtverteidigungspflicht, die alle Männer und Frauen im Alter zwischen sechzehn und siebzig Jahren wie auch in Schweden lebende Ausländer, zum Dienst heranzieht. Dies beinhaltet die Wehrpflicht in den Streitkräften, Zivildienstpflicht zum Beispiel im Rettungswesen und eine allgemeine Dienstpflicht bei erhöhter Bereitschaft in Betrieben.

Schon im Sommer 2018 werden wieder Rekruten zu ihrer militärischen Grundausbildung zwischen neun und elf Monaten in die Kasernen einrücken. Doch müssen nur 4.000 pro Jahr sie ableisten, denn die neue Wehrpflicht dient nicht zur Aufstellung eines Massenheeres, sondern der Beseitigung des im schwedischen Freiwilligen- und Berufsheer entstandenen Personalmangels.

 Damit es sich bei diesen Auserwählten um die für das Militär Geeignetsten handelt, müssen die jungen Schwedinnen und Schweden einen Fragebogen ausfüllen, auf dessen Grundlage entschieden wird, wer zur Musterung kommen muß.

Doch eine Reihe von Anreizen sorgt dafür, daß die Eingezogenen diesen Pflichtdienst freiwillig ableisten. Zum Beispiel wird neben der üblichen Versorgung beim Militär ein faires Gehalt anstelle des mickrigen Wehrsoldes früherer Zeiten gezahlt. Und nach erfolgreichem Abschluß der Grundausbildung winken noch Prämien zwischen 1.800 und 5.000 Euro – nicht schlecht für 19jährige in höchstens elf Monaten. Obendrein gibt es eine exzellente Empfehlung für den weiteren Ausbildungsweg.

Die schwedischen Streitkräfte (Försvarsmakten) erläutern, der Schwelleneffekt – eine der vier Grundlagen der schwedischen Militärdoktrin – bestehe „vor allem aus unserer Fähigkeit zu bewaffnetem Kampf in Großverbänden“ mit hoher Gefechtstauglichkeit und großem Durchhaltevermögen. Kurz gesagt, es geht um Abschreckung.

Die Verfügbarkeit bedeutet, daß die Streitkräfte personell voll besetzt und materiell gut ausgerüstet sein müssen. Kurzfristige Einsatzbereitschaft, um einen Angriff abwehren zu können, ist gefordert. Zur Kampfwertsteigerung müssen regelmäßige Übungen etwa der „Gefechtstaktik der verbundenen Waffen“ durchgeführt werden.

Das innerschwedische zivil-militärische und das internationale Zusammenwirken erhöhen die Gesamtverteidigungsfähigkeit, vor allem durch Beistandsabkommen mit den nordischen Nachbarstaaten und die Zusammenarbeit mit der Nato. Die schwedischen Militärs würden gerne die bewährte Bündnisneutralität aufgeben und eine Vollmitgliedschaft beantragen, doch Politik und Öffentlichkeit zögern noch.

Der vielleicht wichtigste Punkt bedeutet: „glaubwürdig zu handeln“. Denn das sei „eine Voraussetzung dafür, daß die Streitkräfte Respekt im Ausland und Vertrauen im Inland gewinnen“, schreiben die Streitkräfte in ihrer Broschüre „Vi försvarar Sverige“ – Wir verteidigen Schweden.

Und just diesem Zweck diente Aurora 17: Um Glaubwürdigkeit wieder aufzubauen, ist mit dem Großmanöver die Verteidigungsdoktrin erstmals seit über zwanzig Jahren einem Praxistest unterzogen worden.

„Der Auftrag der Streitkräfte ist zuallererst, Schweden und schwedische Interessen zu verteidigen, unsere Freiheit und unser Recht zu leben, wie wir es wollen“, erläuterte der Generalmajor Bengt S. Andersson die Übung.

An Aurora 17 nahmen die Land- und Luftstreitkräfte sowie die Marine teil. Schwerpunktmäßig wurde in den Räumen um Stockholm, Göteborg sowie Gotland geübt. Einheiten aus den USA und Finnland oblag die qualifizierte Feinddarstellung aus dem Osten. Das war nicht ganz unproblematisch, denn in der realen Lage lief parallel zu Aurora 17 das russisch-weißrussische Großmanöver „Zapad 2017“ – übersetzt „West 2017“ – mit 12.700 Soldaten an der finnischen Grenze. Der öffentliche Übungstag am 24. September 2017 war gleichzeitig „Tag der Landesverteidigung“ in Stockholm.

Beifall für neuen Gripen-Kampfflieger 

Die Vorführungen des Heeres fanden auf offenem Feld, dem „Gärdet“, unterhalb des Stockholmer Fernsehturmes statt. Tausende Stockholmer strömten an diesem sonnigen Tag herbei, um sich über ihre „Försvarsmakten“ zu informieren und deren Vorführungen zu verfolgen. Großbildschirme stellten sicher, daß jeder Zuschauer alle Einzelheiten verfolgen konnte.

Das Heer demonstrierte einen Angriff mit Schützenpanzern. Eine Helikopterstaffel flog Truppen ein, die unmittelbar nach ihrer Landung Kampfhandlungen aufnahmen. Fallschirmspringer landeten punktgenau, und Granatwerfer wurden feuerbereit gemacht. 

Alles geschah mit beeindruckender Präzision. Kein Wunder, daß am Schluß jeder Vorführung Beifall aufbrandete. Und die Augen der Zuschauer leuchteten, als die schwedische Luftwaffe mit einer Staffel der neuesten Version des Saab JAS 39 Gripen, ihres weltweit begehrten Superjets, mehrmals das Übungsfeld überflog.

Am Schluß dieses Schautages blieb der Eindruck, daß es den schwedischen Streitkräften gelungen war, in dieser unruhigen Zeit das Sicherheitsgefühl ihrer Landsleute zu stärken.