© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Die Hängepartie ist vorbei
Merkel viertes Kabinett: Ein halbes Jahr nach der Wahl ermöglicht die SPD der Kanzlerin, weiter zu regieren / CSU präsentiert Minister
Jörg Kürschner

Am nächsten Mittwoch ist Angela Merkel am Ziel ihrer Wünsche. Aller Voraussicht nach wird der Bundestag sie auf Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum vierten Mal zur Kanzlerin wählen – ein knappes halbes Jahr nach der Bundestagswahl im September. CDU/CSU und SPD haben im Parlament eine Mehrheit von 44 Stimmen. Die Diplomphysikerin neigt bekanntlich nicht zu Gefühlsausbrüchen, so daß die 63jährige ihren Triumph still genießen wird. Bis zum Ende der Wahlperiode im Herbst 2021 will Merkel durchhalten. Sie wäre dann 16 Jahre im Amt, genauso lange wie ihr einstiger Förderer Helmut Kohl.

Merkels Triumph haben ihr jene 239.604 SPD-Genossen ermöglicht, die bei der Mitgliederbefragung für eine neue, dritte Große Koalition unter ihrer Führung mit Ja gestimmt haben. Aus Dankbarkeit müsse Merkel jetzt der SPD beitreten, wird im Regierungsviertel geunkt. Eine Minderheitsregierung bleibt ihr erspart.

Christsoziale mit Herren-Mannschaft

Doch der Preis der Macht ist hoch für Merkel, die infolge des schlechtesten CDU-Wahlergebnisses seit 1949 einen deutlichen Ansehens- und Autoritätsverlust hinnehmen mußte. Der Koalitionsvertrag hat eine klare SPD-Schlagseite, das wichtige Finanzministerium mußte sie der SPD überlassen. Als Gesundheitsminister hatte sie ihren innerparteilichen Kontrahenten Jens Spahn zu akzeptieren. Zu Wochenbeginn drückte ihr alter Widersacher, CSU-Chef Horst Seehofer, der CDU-Vorsitzenden eine Personalie auf, die man im 177seitigen Koalitionsvertrag vergeblich sucht. Die Dauer-Twitterin Dorothee Bär, derzeit Verkehrs-Staatssekretärin, wird Staatsministerin für Digitales an der Seite des neuen Kanzleramtsministers Helge Braun (CDU). Mit der Nominierung Bärs, die als Staatsministerin keine klassische Ministerin sein wird und für die nur eine koordinierende Funktion vorgesehen ist, wollte Seehofer kaschieren, daß die CSU eine reine Männerriege in das neue Kabinett schickt: Andreas Scheuer als neuen Verkehrsminister, Gerd Müller bleibt Ressortchef für Entwicklungspolitik, Seehofer übernimmt das bisher CDU-geführte Innenministerium, erweitert um die Bereiche Bauen und Heimat. In seinem Mammutressort wird sich der Nichtjurist Seehofer auf den Bundestagsabgeordneten Stephan Mayer, einen Juristen, stützen, den er als parlamentarischen Staatssekretär verpflichtet hat. Der CSU-Mann ist zugleich Vize-Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen (BDV), dessen Vorsitzender Bernd Fabritius neuer Aussiedlerbeauftragter wird. Er hatte den Wiedereinzug ins Parlament verpaßt. In Sorge um die Resonanz der AfD bei den Vertriebenen wollte die CSU diese Flanke schließen. 

Die CDU hatte ihre Ministerliste bereits in der vergangenen Woche präsentiert, die SPD will an diesem Wochenende nachziehen. Im Willy-Brandt-Haus legt man Wert auf einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der Bekanntgabe des Mitgliederentscheids und der Ministerliste, um die unterlegenen Gegner der Großen Koalition nicht zu reizen. Immerhin ließ der kommissarische Parteichef Olaf Scholz wissen, die SPD werde (wie die CDU) drei Männer und drei Frauen benennen. Gute Chancen auf einen Verbleib im Kabinett haben offenbar Heiko Maas (derzeit Justizminister) und Katarina Barley, zuständig für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ob Sigmar Gabriel sein repräsentatives Büro im liebgewonnenen Außenministerium behalten darf, ist unsicher. Das Verhältnis zu Fraktionschefin Andrea Nahles und Olaf Scholz, dem designierten Finanzminister und Vizekanzler, gilt als gestört. Die nach dem Mitgliederentscheid etwas erschöpfte und schweigsam gewordene SPD-Spitze hatte freilich zu ertragen, daß sich prominente Genossen kritisch zu ihrer Partei äußerten. Die SPD müsse sich fragen, „ob das Pendel in den vergangenen Jahren nicht zu weit in Richtung einer Vielfaltseuphorie und eines gehypten Multikulturalismus ausgeschlagen ist“, meinte etwa Peer Steinbrück. Und Thilo Sarrazin monierte, die Partei habe „zu den zentralen Fragen der Gegenwart – Fluchtmigration, Einwanderung, Integration und Demographie – keine zielführenden Antworten“. Sie scheine sich für dafür „auch nicht ausreichend zu interessieren.“

Nach der Ernennung und Vereidigung des Kabinetts Merkel fällt der AfD als drittstärkster parlamentarischer Kraft eine neue Rolle zu. Die Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland sind ab nächster Woche die Oppositionsführer, antworten in Debatten unmittelbar nach den Vertretern der Koalition. Die AfD will die neue Große Koalition vor allem bei den Themen Migration, Innere Sicherheit und Europa angreifen. Bei der „Fortsetzung der Flüchtlingspolitik ohne Obergrenze“ werde die Partei „vor allem die CDU deutlich ins Visier nehmen“. 

„Ab jetzt geht es an die Arbeit“, motivierte sich auch Christian Lindner, der durch seine Flucht aus der Jamaika-Koalition in die Defensive geratene FDP-Fraktions- und Parteichef. Trotz aller inhaltlicher Kritik war auch bei den Grünen und der Linken eine gewisse Erleichterung zu spüren, daß die parlamentarische Aufwärmphase mit einer geschäftsführenden Bundesregierung zu Ende geht.