© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Wie der Neue Mensch auf sich warten ließ
Karl Schlögels Kulturgeschichte über das kurze Jahrhundert des Sowjetkommunismus
Karlheinz Weißmann

Es war selbstverständlich schon die Rede vom „Amerikanischen Jahrhundert“ und sogar vom „Jüdischen Jahrhundert“ oder dem „Jahrhundert der Deutschen“, aber der Gedanke, das 20. als „Sowjetisches Jahrhundert“ zu bezeichnen, käme nur wenigen in den Sinn. Wer dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel in sein musée imaginaire folgt – das letzte Kapitel des besprochenen Buches enthält einen Entwurf –, wird deshalb zögern, die Räume zu betreten. Aber, wenn er durch die Tür tritt, versteht er allmählich, warum es einen guten Sinn haben könnte, sich genauer mit dieser Deutung zu beschäftigen.

In jedem Fall unterscheidet sich die Darstellung Schlögels sehr deutlich von dem, was sonst aus Anlaß des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution geboten wurde. Keine Biographien, keine Haupt- und Staatsaktionen, eher Kulturgeschichte, nur nicht im konventionellen Sinn des Wortes. Vielmehr findet man in einem fast tausend Seiten starken Band bekannte und unbekannte Essays zusammengestellt, die die Basis für die einzelnen Abteilungen des erwähnten Museums schaffen. 

Man könnte auch von Ausgrabungsberichten sprechen. Denn Schlögel treibt eine Art „Archäologie“, das heißt, er befaßt sich mit den Dingen, die dem Blick des Historikers oft entgehen, weil sie Überrest, nicht Quelle sind, oder mit dem, was so flüchtig ist, daß es keinen materiellen Niederschlag gefunden hat. Zu den schönsten Stücken gehört diesbezüglich das über „Krasnaja Moskwa“, das Parfüm „Rotes Moskau“. Schlögel zeichnet nach, wie in der Frühzeit der Sowjetunion die Verdammung jeder Art Kosmetik als „bourgeois“, „westlich“, „dekadent“ Platz griff und im Vaterland der Arbeiter weder Lippenstift noch Rouge noch Duftwasser geduldet werden sollten; wie sich aber schon im Lauf der zwanziger Jahre eine Linie durchzusetzen begann, die bis zu einem gewissen Grad bereit war, die Bedürfnisse der Frauen gelten zu lassen und auf jene Spezialisten der alten Zeit zurückgriff, die die notwendigen Kenntnisse besaßen. 

In diesem Fall handelte es sich um einen französischen Parfumeur, der schon die Zarin beliefert hatte, den die revolutionären Umstände im Land festhielten und der sich nolens volens bereitfand, ein Parfum zu schaffen, das den neuen Herren genehm war. Wenn er dabei als Grundlage eine Kreation verwendete, die schon an den Hof geliefert wurde, war das aber nur die eine Pointe, die andere, daß es sich um eine Variante jenes Parfums handelte, das als das berühmteste des 20. Jahrhunderts gelten darf: Chanel No. 5.

Was man hier wie unter dem Brennglas erkennt, ist ein Aspekt, der bei der Betrachtung der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts rasch vergessen wird: daß sie, ganz gleich wie absolut ihr Machtanspruch war, immer gezwungen blieben, der Normalität Zugeständnisse zu machen. Dafür gab es zwei Ursachen. Die erste lag in der Trägheit der geschichtlichen Prozesse, selbst wenn man den Fortschritt mit aller Macht forcierte. 

Trotz der Requirierung der Klaviere durch die Revolutionäre fand sich da oder dort eines weiter in Privatbesitz und gewann die klassische Musik rasch ihren Stellenwert zurück, trotz der Zusammenpferchung in der zwangsweise aufgeteilten Stadtwohnung, der „Kommunalka“, verteidigten die Menschen zäh ihre Sphäre gegen das Kollektiv (und sei es in der Abgeschiedenheit der Toilette), trotz aller Begeisterung der Avantgarde für „Agit-tekstil“ – mit Hammer, Sichel und Stern bedruckte Kleidung etwa – hielt auch der Genosse an konventionellen Vorstellungen von Chic und Tragbarkeit fest. Trotz der Kirchenzerstörung und der „Glockenkriege“, der rabiaten Übergriffe der „Gottlosenbewegung“ und der Ermordung der Priester, trotz der Einführung von „roter Taufe“, „roter Hochzeit“, „rotem Mai“ und Kremierung der Leichen behielt die Orthodoxie ihren Einfluß auf das Seelenleben der Sowjetbürger.

Neben dieser ersten stand als zweite Ursache die Menge paradoxer Ergebnisse der Modernisierung. Gerade die von den Bolschewiki vorangetriebene Zwangsindustrialisierung und -urbanisierung des rückständigen, agrarischen Rußland schufen die Voraussetzungen für Abweichungen von ihren Normen. Deshalb konnte das merkwürdige Phänomen der sowjetischen Amerika-Begeisterung in der Zwischenkriegszeit eben nicht auf den Aspekt des Technischen beschränkt werden. 

Notwendig kamen auch Individualisierungs- und Konsumwünsche zur Geltung. Die standen der Fixierung auf den „Plan“ selbstverständlich diametral entgegen. Stalins gigantische Kanal-, Staudamm-, Straßen- und Eisenbahnbauten noch in den unwirtlichsten Gegenden des Riesenreiches oder die Schaffung von Kulturpalästen und „Wohnmaschinen“ wie dem „Haus an der Moskwa“ hatten immer mehr als eine praktische Dimension. Es ging auch um den „Neuen Menschen“ als Ergebnis der großen „Umschmiedung“ durch Führer und Partei. Nur daß der partout nicht erscheinen wollte. Die Anstrengungen der „heroischen“ Anfangsjahre forderten ihren Preis, und nach dem „Sieg über den Faschismus“ erlosch der durchaus ehrliche Enthusiasmus der Massen Stück für Stück und wich dem Bedürfnis nach Normalität.

Eine Faszination für die linke Utopie scheint durch

Schlögel verschweigt die Kosten des „Sowjetischen Jahrhunderts“ keineswegs, was die charakterlichen Deformationen betrifft oder die grotesken Manipulationen durch permanent umgearbeitete Fake News oder die Mangelwirtschaft angeht; ein Abschnitt des Buches behandelt das Thema „Die Warteschlange als sowjetischer Chronotyp“, ein anderer die wahllose Schließung öffentlicher Einrichtungen. Es geht auch um die sibirischen Arbeitslager und die Schwierigkeit des Erinnerns, um die ungeheuren Op-ferzahlen und die Errichtung des ersten sowjetischen KZ ausgerechnet auf der Klosterinsel Solowki. Aber wenn hier die Parallele zum NS-System naheläge, dann spricht Schlögel von „scheinbarer“ Ähnlichkeit. Das hat sicher damit zu tun, daß er sich ausdrücklich der Historisierung verpflichtet. Aber dahinter steht auch die zuletzt noch immer legitim erscheinende Hingabe an die Faszination der linken Utopie und eine Sympathie für die Menschen, die in einer Weise als Opfer der Umstände betrachtet werden, wie das für die Deutschen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 kaum jemandem in den Sinn käme.

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 912 Seiten, Abbildungen, 38 Euro