© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Heiße Konflikte im kalten Norden
Arktis: Nicht nur Rußland schreckt die westlichen Anrainer mit seinem Eskalationspotential, auch China will künftig mitmischen
Paul Rosen

Zwischen 20 und 30 Prozent, nach anderen Schätzungen sogar 70 bis 80 Prozent der globalen unentdeckten Vorkommnisse an Erdöl und Erdgas sowie Kupfer, Nickel, Zink und Seltenen Erden sollen sich nördlich des Polarkreises befinden. Wenn es stimmt, daß in dieser Region die Temperaturen dauerhaft steigen, öffnen sich die Türen zu einem Rohstoffparadies. Hinzu kommen ertragreiche Fischfanggebiete sowie kürzere Wege für die Handelsschifffahrt. „Der Eisrückgang in der Arktis eröffnet so auch eine handfeste ökonomische Chance“, schreibt das Planungsamt der Bundeswehr in einer Arktis-Studie, in der allerdings auch die Schattenseiten deutlich beschrieben werden.

Berlin will sich einbringen, hat aber keine Interessen

Erwartet wird ein „spektakulärer Wettkampf“ der Anrainerstaaten untereinander und auch mit anderen Ländern um die lukrativste Ausbeute. „Dabei könnte der Ressourcenhunger so groß sein, daß nicht nur Umweltbedenken kaum noch eine Rolle spielen werden, sondern im Konflikt um territoriale Zugehörigkeiten und Schürfrechte sogar eine militärische Eskalation als nicht mehr ausgeschlossen betrachtet wird“, schreiben die Bundeswehr-Planer.  Droht ein heißer Konflikt im kalten Norden? 

Geographisch umfaßt die Arktis alle Land- und Seegebiete nördlich des arktischen Polarkreises. Jenseits des Polarkreises liegt ein See- und Landgebiet von etwa 20 Millionen Quadratkilometern Größe. Die Land- und Inselgebiete gehören den USA (Alaska), Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen, Rußland und in sehr geringem Umfang Island, Schweden und Finnland, wobei die beiden letztgenannten keinen direkten Zugang zu arktischen Gewässern haben. 

Freie Claims, die sich bisher nicht beteiligte Länder abstecken könnten, gibt es nicht. „Die Arktis ist kein politisch fragiler ‘Wilder Norden’, sondern bereits heute ein rechtlich weitgehend geregeltes und stabiles Umfeld mit fast ausnahmslos klar zugeordneten Souveränitäts- und Besitzverhältnissen“, schreibt das Planungsamt. Fast alle vermuteten Vorkommen würden in Arealen liegen, „die rechtlich eindeutig den fünf Küstenstaaten zugerechnet werden können.“ 

In den Leitlinien deutscher Arktispolitik bezeichnet die Bundesregierung die aus den Veränderungen in der Arktis resultierenden politischen Entwicklungen als „schwer kalkulierbar“. Berlin vertraut aber auf ein System multilateraler Stabilität, um Konflikte durch vorbeugende Vertrauensbildung, Kooperation und Koordination bereits im Vorfeld zu vermeiden. Dazu zählen zwei internationale Einrichtungen: Zunächst das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der Uno, das  von 165 Staaten ratifiziert wurde. Die USA haben zwar nicht ratifiziert, wenden jedoch große Teile des Abkommens als „Völkergewohnheitsrecht“ an. 

Das Abkommen berechtigt Meeresanrainer, eine Zone von zwölf Seemeilen als nationales Küstenmeer und eine Ausschließliche Wirtschaftszone bis zu 200 Seemeilen festzulegen. Wer weiter hinaus will (wie in der Arktis Rußland oder Dänemark bis zum Nordpol), muß sich an die Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels oder die Internationale Meeresbodenbehörde wenden. 

Rußland etwa hat sich an die Festlandsockelkommission gewandt, um Ansprüche durchzusetzen. Als der russische Polarforscher Artur Chilingarov 2007 mittels eines U-Bootes eine russische Landesflagge auf dem geographischen Nordpol am Meeresgrund absetzte, lieferte er damit nach Ansicht der Bundeswehr-Planer „ein zwar völkerrechtlich unverbindliches, aber dennoch höchst medienwirksames Signal nationalstaatlichen Anspruchsdenkens“.

 Vorstellungen von einem neuen kalten Krieg und eines „arktischen Goldrausches“ seien seitdem ein beliebtes Motiv in den Medien, aber in Wirklichkeit sei das Spannungspotential weit geringer als zumeist dargestellt“. Dennoch wird die Bedeutung der Arktis für Rußland nicht nur als Rohstoffquelle richtig erkannt: „Weitaus stärker noch als bei den meisten anderen Anrainern sind die Polargebiete ein Element der nationalen Identität und Historie.“ 

Das zweite Gremium ist der „Arktische Rat“ mit Sitz in Tromsö (Norwegen). Die Bundesregierung erläutert in ihrer Arktis-Strategie: „Die Zusammensetzung des Arktischen Rates aus den Mitgliedern Dänemark, Island, Norwegen, Schweden, Finnland, Rußland, USA und Kanada sowie Organisationen der indigenen Bevölkerung als permanente Teilnehmer und ständigen Beobachtern, bietet die einzigartige Chance, regionale und internationale Interessen an der Arktis durch multilaterale Zusammenarbeit zum Ausgleich zu bringen.“ 

Deutschland will sich gemäß der Strategie als Partner für Forschung, Technologie und Umweltstandards einbringen und auch an der Rohstoffgewinnung mitwirken. Irgendwelche strategischen Interessen hat Deutschland, das dem Arktischen Rat als Beobachter angehört, nicht. Der Rat sorgte in den vergangenen Jahren dafür, daß seine Mitglieder über Verträge bei Such- und Rettungsaktionen in der Arktis zusammenarbeiten und außerdem bei Ölunfällen kooperieren. 

Nachdem Rußland zu Sowjetzeiten im hohen Norden noch hoch gerüstet war, brachten Glasnost und Perestroika die Demilitarisierung mit sich. 1987 verkündete Michail Gorbatschow seine Vision von der Arktis als „Zone des Friedens“. Wladimir Putin bezeichnete sie als „Zone des Friedens und der Kooperation“, deren Probleme allesamt in partnerschaftlicher Atmosphäre zu lösen seien. 

Und tatsächlich bescheinigt die Bundeswehr-Studie den Russen, sich „kontinuierlich zum Frieden und zur Wahrung des internationalen Rechts“ bekannt zu haben. Während friedensbewegte Beobachter schon schmeichelnd von der „Arctic Saga“ schrieben, gab es aber immer schon auch andere Stimmen: So kam der kanadische Arktis-Experte Rob Huebert 2010 zu dem Schluß, daß die arktischen Anrainerstaaten „zwar von Kooperation reden“, sich aber auf einen Konflikt vorbereiten würden. Die Bundeswehr-Studie widerspricht: „Der Eindruck einer gezielten Militarisierung der Region ist bislang nicht zutreffend.“ Es gebe allenfalls Umgruppierungen, um die Kräfte im Norden über das klassisch-militärische Aufgabenspektrum hinaus zur Wahrnehmung grenzpolizeilicher  Aufträge zu befähigen. 

2014, mit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts, fror die „Artic Saga“ ein, die militärische Zusammenarbeit im ewigen Eis wurde vom Westen auf ein Minimum reduziert. Das Vertrauen „ist nicht mehr uneingeschränkt gegeben, wenn im Nachgang der Ukraine-Krise nun damit gerechnet werden muß, daß der Kreml auch in der Arktis von seiner bisher verfolgten Linie der Kooperation und der Achtung internationalen Rechts abzuweichen beginnt“, konstatiert die Bundeswehr-Studie, in der die Befürchtung geäußert wird, aus dem Miteinander im hohen Norden könne ein Gegeneinander werden. 

Militärmanöver heizen Stimmung auf 

Im März 2015 ließ Rußland 45.000 Soldaten mit Kriegsschiffen, U-Boten und Flugzeugen ein Manöver im Norden abhalten. Zuvor war ein neues Einsatzkommando für die Arktis eingerichtet worden. 50 Stützpunkte aus Sowjetzeiten sollen reaktiviert werden. 

Westliche Länder intensivierten ebenfalls ihre Militärübungen. So hielt die Nato 2015 das Manöver „Arctic Challenge Exercise“ mit über 100 Flugzeugen und 4.000 Soldaten ab. Geübt wurde die Durchsetzung einer Flugverbotszone, was sich in Ermangelung anderer Akteure nur gegen die russische Seite richten konnte. „Arctic Challenge Exercise“ wurde 2017 in einer ähnlichen Größenordnung wiederholt. 

Nach einem Bericht der deutschen Fachzeitschrift MarineForum erhöhen die USA seit 2014 ihre militärischen Kapazitäten in Alaska, von früher erwogenen Reduzierungen ist keine Rede mehr. Eine militärische Großübung „Northern Edge“ findet alle zwei Jahre statt, der Ausbau von Infrastruktur wird beschleunigt. Ab 2020 sei die Stationierung von zwei Luftwaffengeschwadern (F 35) vorgesehen, so der Bericht des MarineForum.

Kapitänleutnant Laura Ohlendorf nahm auf der 56. Historisch-Taktischen Tagung der deutschen Marine im Januar 2016 in einem Vortrag mit dem martialischen Titel „Kalt, aber heiß – Die Nordflanke“ kein Blatt vor den Mund: „Zusammenfassend kann die wachsende russische Militärpräsenz in der Arktis als beginnende Militarisierung der Region bewertet werden.“ Andere Anrainer müßten dies als mögliche Bedrohung auffassen. „Erste Anzeichen für eine Aufrüstung werden auch sichtbar“, erklärte Ohlendorf in ihrer Rede, die in der Fachschrift Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik abgedruckt wurde. So habe Norwegen in einem Sicherheitsbericht „explizit auf Putins Schaffung eines externen Feindes zur innenpolitischen Machtstabilisierung hingewiesen“. 

Aussagen vom russischen Vertreter im Arktischen Rat, Vladimir Barbin, wonach die Arktis eine Zone der Kooperation sei, die nicht von Problemen der internationalen Arena beeinflußt werde, läßt Ohlendorf nicht gelten. Auch die Äußerung von Barbin, es gebe keine Herausforderungen oder Probleme in der Arktis, die mit militärischen Mitteln gelöst werden könnten, beweist für Ohlendorf den bei Russen üblichen Unterschied zwischen Rhetorik und Realität: „Dieses außenpolitisch janusköpfige Verhalten Rußlands zeigt, daß der Zweck über die Wahl der Mittel entscheidet.“

Grönland bald ein unabhängiger Staat?

Allerdings würden sich die russischen Interessen mit denen anderen Staaten nur in der Frage der Zugehörigkeit des Nordpols und der Nordostpassage gegenüberstehen: „Die hier Rußland gegenüberstehenden Kontrahenten werden nicht auf militärischem Wege ihren Anspruch auf den Nordpol durchsetzen. Ihre Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf“, ist Ohlendorf überzeugt. Daher ist die Offizierin sicher: „Es existieren sicherlich konfliktbehaftete Interessen in der Arktis, aber bislang fehlt Rußland der Gegenspieler für eine mögliche militärische Auseinandersetzung.“ 

Dieser Gegenspieler kann aber schnell kommen. Der frühere US-Präsident Barack Obama bekam ihn im September 2015 bereits zu sehen: Als Obama Alaska besuchte, kreuzte im Beringmeer vor der Küste des nördlichsten US-Bundesstaates ein Geschwader chinesischer Kriegsschiffe. 

Was in der Arktis passieren könnte, haben die Bundeswehr-Planer in ihrer Studie recht nebulös beschrieben. Sie gehen von einer langfristig denkbaren völkerrechtlichen Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark aus. Die Außenpolitik des neuen Staates könnte ganz anders sein als die der Regierung in Kopenhagen heute. Weiterhin erwartet wird eine verstärkte Aktivität von bislang nur als Beobachtern im Arktischen Rat agierenden asiatischen Akteuren. 

China ist Beobachter im Arktischen Rat. Deutlicher wird Offizierin Ohlendorf in ihrem Vortrag. Ein Nachteil für China als nichtarktischer Akteur sei der fehlende Stützpunkt in Arktisnähe: „Grönland könnte, neben der geostrategischen Alternative Island, eine mögliche Basis für einen chinesischen Arktisstützpunkt sein. China macht Island und Grönland – den beiden kleinen, arktischen Staaten, die nach finanzieller Unterstützung streben – stetig den Hof.“