© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Das Gedächtnis verloren
Lutz C. Kleveman wirft in seiner historischen Annäherung an Lemberg den Ukrainern die Kollaboration im Holocaust vor
Paul Leonhard

Ist Lemberg, einst die westlichste Stadt des Sowjetimperiums, die vergessene Mitte Europas? Tatsächlich liegt die 750.000 Einwohner zählende west-ukrainische Stadt fast genau dort, wo sich der geographische Mittelpunkt des Kontinents befindet. Gleichzeitig liegt sie gefühlt weit im Osten. Gegründet im 13. Jahrhundert, fiel sie schon knapp hundert Jahre später an Polen, war Jahrhunderte später nach Wien, Budapest, Prag und Triest die fünftgrößte Stadt im Habsburgerreich. Sie galt als „Jerusalem Europas“, in ihr lebten mehrheitlich Polen, viele Juden und eine ukrainische, deutsche und auch armenische Minderheit.

Anfang des 20. Jahrhunderts galt sie als eine von Künstlern und Wissenschaftlern geprägten Stadt der Moderne, um im Zweiten Weltkrieg nach der Ermordung der Juden und der „demographischen Katastrophe“ zu einem „schwarzen Loch“ zu werden und „in Vergessenheit zu geraten“, so der Journalist Lutz C. Kleveman in seinem Buch „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas“.

Nach 1945 hatte Lemberg eine andere Bevölkerung

Nach fünf Reisen in die auch heute faszinierende Stadt resümiert er: „Die Geschichte Lembergs ist die Geschichte vieler mitteleuropäischer Städte, die zwischen den Großmächten Deutschland und Rußland aufgerieben und entvölkert wurden. Lemberg ist Vilnius, ist Grodno, ist Brest, ist Posen, ist Czernowitz, ist Fiume, ist auch Breslau und Königsberg.“ Wie diese habe Lemberg Mitte des 20. Jahrhunderts durch Krieg, Holocaust und Vertreibung fast alle seine Einwohner und damit sein Gedächtnis verloren.

„Der Unterschied zwischen den Nazis und den Sowjets war, daß die Nazis nur die Menschen töteten, die Sowjets aber die Seelen und die Kultur eines Volkes“, sagt Taras Cholyj. Der Historiker erzählt von einem Museumsvorhaben mit dem Namen „Territorium des Terrors“, das die Lemberger Erfahrungen unter der Gewaltherrschaft von Sowjets und Nationalsozialisten erzählen soll: „Allerdings endet für uns die Geschichte nicht wie in westlichen Museen bereits 1945, sondern geht weiter bis 1955, also bis uns die Sowjets völlig besiegt hatten.“

Dem Historiker Cholyi verdankt Kleveman die Kontakte zu Zeitzeugen der sowjetischen und deutschen Besetzung, darunter ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS-Division „Galizien“ und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA). Leider ist Kleveman zum Zeitpunkt der Gespräche schon so auf den Holocaust fixiert, daß sich nicht nur seine Dolmetscherin angesichts seiner insistierenden Fragen zum Pogrom 1941 und dem Umgang der Ukrainer mit den Juden genervt zeigt, sondern sich auch die Zeitzeugen verschließen.

„Der Judenmord war eine deutsche Angelegenheit, das ging uns nichts an, das haben wir nicht mitgemacht“, versichert ein alter UPA-Kämpfer. Aus Angst vor Restitutionsansprüchen jüdischer Nachfahren auf Wohnungen und geraubtes Eigentum werde die „ukrainische Täterrolle verharmlost“, schlußfolgert Kleveman, der ein Drittel seines Buches dem Holocaust einräumt: Dieser sei in der „Erinnerung vieler west-ukrainischer Familien durch die Erfahrung der sowjetischen Unterdrückung schlichtweg überlagert worden“.

Den Ukrainern, die erst nach der Auflösung der Sowjetunion einen dauerhaften Nationalstaat gründen konnten, wirft Kleveman „Kollaboration im Holocaust“ sowie die „Zerstörung polnischer Kultur“ und „die Vertreibung der Polen aus der Westukraine im und nach dem Zweiten Weltkrieg“ vor. Nur ein „offener, ehrlicher Umgang mit ihrer eigenen Geschichte“ böte ihnen „die Chance, die innerukrainische Spaltung zu überwinden und zu einer gemeinsamen nationalen Identität zu finden“.

Wer sich erhofft, ein umfassenderes Buch über Lemberg, seine Geschichte und seine Einwohner in den Händen zu halten, sieht sich enttäuscht.

Lutz C. Kleveman: Lemberg. Die vergessene Mitte Europas. Aufbau Verlag, Berlin 2017, gebunden, 315 Seiten, Abbildungen, 24 Euro