© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Vollstrecker der Revolution
Vor hundert Jahren erlebte die neugegründete Rote Armee ihre erste Feuertaufe: Trotzkis Krieger glichen kaum Soldaten bisheriger Streitmächte
Karlheinz Weißmann

An jedem 23. Februar begeht Rußland den „Tag des Vaterlandsverteidigers“. Ein entsprechendes Gesetz hat man 2002 eingeführt und damit – wie in so vielem, was das Militär betrifft – auf die sowjetische Tradition zurückgegriffen. Denn in der Zeit des kommunistischen Regimes feierte man an diesem Datum den „Tag der Roten Armee“ zum Gedenken der ersten kriegerischen Erfolge der jungen Sowjetmacht, zu denen der Widerstand gegen die deutschen Truppen bei Pleskau am 23. Februar 1918 gehörte.

Bereits fünf Wochen zuvor war von der bolschewistischen Regierung, dem Rat der Volkskommissare, ein Dekret zur Aufstellung der „Roten Bauern- und Arbeiterarmee“ erlassen worden. Bis dahin hatten sich die Bolschewiki nur auf Verbände stützen können, die aus der Zarenarmee übergelaufen waren – die „Lettischen Schützen“ etwa – oder die die „Roten Garden“ stellten. Dabei handelte es sich um Arbeitermilizen, ähnlich denen, die es schon während der Revolution von 1905 gegeben hatte. 

Nach dem Beginn der Unruhen im Frühjahr 1917 bewaffneten sich die Roten Garden, besetzten Fabriken und strategische Punkte in den großen Städten. Vor allem dienten sie als Schutz der Sowjets, jener ad hoc gebildeten Räte, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung errichten wollten. Lenin hofierte die Sowjets und machte sich scheinbar deren Programm zu eigen, was auch erklärt, warum die Rotgardisten nach und nach auf die Seite der Bolschewiki traten und deren bewaffneten Arm bildeten. Ihre Truppen waren es, die mit dem Sturm auf das Winterpalais in Petrograd und auf den Kreml in Moskau ganz wesentlich zum Erfolg der Oktoberrevolution beitrugen.

„Rote Garden“ als einzige Kämpfer der Revolution

Die Roten Garden bestanden aus Freiwilligen. Sie bildeten auf lokaler Ebene Einheiten von 100 bis 150 Mann und wählten ihre Anführer selbst. Es gab weder einheitliche Bewaffnung noch einheitliche Uniformierung, noch verbindliche, allgemein akzeptierte Vorschriften. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki wuchs die Mitgliederzahl stetig, und neben die Arbeiter traten demobilisierte Soldaten, Bedienstete, die ihrer Herrschaft davongelaufen waren, und junge Idealisten, die davon träumten, am Aufbau einer neuen Welt teilzunehmen, aber auch gewöhnliche Kriminelle, die unter dem Deckmantel revolutionärer Gewaltanwendung ihre ganz eigenen Ziele verfolgten. Im November 1917 sollen die Roten Garden etwa 200.000 Mann umfaßt haben. Kurz darauf begann die bolschewistische Regierung, aus ihren Reihen reguläre Regimenter aufzustellen.

Diese Maßnahme kann nicht getrennt werden von der gleichzeitigen Schaffung einer neuen militärischen Führungsspitze. Bereits am 26. Oktober 1917 war ein Komitee für Militär- und Marineangelegenheiten geschaffen worden, das man kurz darauf in Sowjet der Volkskommissare für Militär- und Marineangelegenheiten umbenannte. Der Sowjet ergriff Maßnahmen, die einerseits den Prinzipien der Rotgardisten, andererseits den egalitären Vorstellungen der Bolschewiki entsprachen: Mit Dekret vom 10. November wurden alle Dienstränge abgeschafft; es gab nur noch den „Roten Soldaten“ und den „Roten Kommandeur“. Dem Anschein nach existierte kein Offizierskorps, nur eine Menge Funktionäre; am 16. Dezember erging außerdem eine Vorschrift, die das Prozedere für die Wahl der Anführer festlegte.

Zu dem Zeitpunkt war die Auflösung der alten Armee längst in vollem Gange. Theoretisch standen noch vier bis fünf Millionen Mann unter Waffen. Aber schon als man die Kampfhandlungen Ende 1917 witterungsbedingt eingestellt hatte, verließen die Soldaten ihre Stellungen, strömten in die nahe gelegenen Orte, bildeten revolutionäre Komitees, stellten die Autorität ihrer Offiziere in Frage, setzten sie ab oder töteten sie. Die Situation war chaotisch. Es kam dauernd zu Ausschreitungen, Plünderungen und Pogromen, und dann wirkte sich das Versprechen der bolschewistischen Regierung aus, daß der Grundbesitz enteignet werde. 

Die Front begann zu verschwinden, weil jeder rekrutierte Bauer nach Hause wollte, um bei der Landverteilung seinen Anspruch zu sichern. Ein Vorgang, der die sowjetische Führung mit wachsender Unruhe erfüllte, da der Kriegszustand andauerte, da es an den Rändern des alten Reiches zu Sezessionen kam und sich deutsche Truppen bedrohlich den Zentren des europäischen Rußland näherten. Am 15. Januar 1918 gab der Rat der Volkskommissare deshalb die Bildung einer neuen, der „Roten Armee“, bekannt. Fünf Wochen später erging ein flammender Aufruf „Das sozialistische Mutterland in Gefahr!“ und Freiwillige strömten zu den Fahnen. Bis zum Ende des Frühjahrs wuchs die Zahl auf mehr als 200.000 an. Allerdings gab es keine funktionsfähigen Strukturen, keine Ausbildungsstätten, keine Uniformen. Als gemeinsames Abzeichen dienten lediglich rote Armbinden und ein fünfzackiger „Sowjetstern“, aufgelegt Hammer und Pflug, bevor dann das Staatsemblem mit Hammer und Sichel an die Stelle trat.

Diese Improvisation konnte auf Dauer keine Lösung sein. Aber erst mit der Berufung von Leo Trotzki an die Spitze der Roten Armee wendete sich das Blatt. Das war keineswegs selbstverständlich, denn die von Trotzki bis dahin verfolgte Linie sprach eher gegen seinen Realitätssinn. Er stammte aus einer jüdischen Familie, seine außergewöhnliche intellektuelle Begabung hatte sich schon in jungen Jahren gezeigt. An einer bürgerlichen Karriere zeigte er aber kein Interesse. Trotzki trat auf die Seite der radikalen Linken und führte das Leben eines Berufsrevolutionärs. Während der Revolution von 1905 schon Vorsitzender des Sowjets von Sankt Petersburg, ging er nach dem Scheitern des Umsturzes ins Exil und kehrte erst 1917 nach Rußland zurück. Wieder zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt, kontrollierte er die Roten Garden der Stadt und spielte schon deshalb eine entscheidende Rolle für den Erfolg der Oktoberrevolution. In der bolschewistischen Regierung bekleidete er das Amt des Volkskommissars für die auswärtigen Angelegenheiten.

Die Rote Armee nur als Instrument des Bürgerkriegs

Allerdings gab es zwischen ihm und Lenin Meinungsverschiedenheiten. Nicht im Hinblick auf das strategische Ziel der Weltrevolution, aber in bezug auf das taktische Vorgehen. Das wurde vor allem bei den Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten im Frühjahr 1918 deutlich. Während Lenin für Hinhalten eintrat, bis die Revolution auch Zentraleuropa ergriff, glaubte Trotzki, daß der Gegner schon so geschwächt sei, daß er den Kampf nicht mehr fortsetzen könne und trat entsprechend arrogant gegenüber der deutschen und österreichisch-ungarischen Seite auf. 

Am 10. Februar erklärte er mit großer Geste den Krieg ohne weitere Verhandlung für beendet. Daraufhin rückten deutsche Truppen erneut gegen die russische Hauptstadt vor und trafen praktisch nirgends auf Widerstand. Die sowjetische Führung geriet in Panik und entschloß sich, den von den Mittelmächten geforderten Friedensvertrag zu unterzeichnen. Trotzki trat von seinem Amt zurück. Lenin hielt seine Fähigkeiten allerdings für unverzichtbar und ernannte ihn am 14. März zum Volkskommissar für das Kriegswesen.

Trotzki betrachtete die Rote Armee nicht in erster Linie als regulären Kampfverband, sondern als Instrument des Bürgerkrieges. Denn nach dem vorläufigen Ende der äußeren Bedrohung ging es vor allem darum, die Gegner im Inneren zu vernichten. Die erhielten massiven Zulauf, nachdem Lenin die verfassunggebende Versammlung im Januar 1918 hatte auseinanderjagen lassen. Es bildeten sich daraufhin in vielen Teilen Rußlands „weiße“ Verbände, die allerdings ein ausgesprochen buntscheckiges Bild boten: zarentreue Offiziere und überzeugte Monarchisten, Kosaken, Nationalisten, Liberale und Demokraten, Linke aller Schattierungen, die das diktatorische Regime der Bolschewiki ablehnten. 

Außerdem gab es „grüne“ Truppen. Neben Marodeuren und Banditen waren das vor allem Bauern, die das nach der Bodenreform gerade gewonnene Hab und Gut gegen die Zentralregierung verteidigen wollten. Vielfach handelte es sich bei den Grünen um Deserteure der Roten Armee, die im Frühjahr 1918 zwischen 80 und 90 Prozent ihres Mannschaftsbestandes verlor. Das hieß, daß ausgerechnet die Bauern, die sich bisher gegenüber den Bolschewiki wohlwollend oder neutral verhalten hatten, nun die Basis eines breiten Widerstandes bildeten und die Regierung die Kontrolle über große Teile des Landes verlor.

Tatsächlich bedrohte der von Lenin entfesselte „Kreuzzug für das Getreide“ die Landbevölkerung in ihrer Existenz. Vordergründig sollten Beschlagnahmen und Kontrollen dazu dienen, den Schwarzmarkt zu schließen und die permanente Versorgungskrise in den „roten Städten“ zu beenden. Aber die Grausamkeit der Requirierungskommandos und die Inkompetenz der neuen Bürokratie verschärften die Krise. Ein Vorgang, der Lenin aber nicht zum Einlenken brachte. Vielmehr betrachtete er die gegebene Lage als Möglichkeit, das ganze Land unter Kriegsrecht zu stellen, jedes Gut zu beschlagnahmen, jeden Menschen – vor allem soweit er aus den „feindlichen Klassen“ stammte – als Geisel zu nehmen oder ohne Urteil in ein „Kontslager“ zu verbringen und bei jeder Andeutung von Opposition klarzustellen: „wer sich widersetzt, ist zu erschießen“. Lange vor der offiziellen Deklaration Ende August 1918 war der „Massenterror“ übliche Praxis geworden.

Übernahme von Tausenden zaristischen Offizieren

Neben der neuen Geheimpolizei, der Tscheka, gehörte die Rote Armee zu seinen wichtigsten Trägern. Dazu hatte Trotzki die Truppe einer strikten Reorganisation unterworfen. Schon im Mai war als Konsequenz der wachsenden Zahl von Fahnenflüchtigen die Wehrpflicht für alle Männer zwischen achtzehn und vierzig Jahren eingeführt worden. Bis zum September stand der neue Aufbau, und bis zum Frühjahr 1919 befanden sich mehr als eineinhalb Millionen Soldaten unter Waffen. Gleichzeitig verstärkte Trotzki den Zugriff der Partei auf die Truppe – im August 1920 gab es 278.000 Politkommissare –, begann aber die Gleichmacherei und die basisdemokratischen Prinzipien zu beseitigen. Gegen den Widerstand Lenins setzte er außerdem die Übernahme von etwa 22.000 (andere Quelle sprechen sogar von 40.000) ehemals zaristischen Offizieren durch, die er seit dem Herbst 1918 zwangsrekrutierte. Sie durften vorerst zwar nur als „Militärspezialisten“ bezeichnet werden, erhielten aber viele ihrer Privilegien zurück. Weniger bekannt ist die Eingliederung von 130.000 früheren Unteroffizieren und Sergeanten. Faktisch ersetzten diese Männer die oftmals inkompetenten Anführer, die von ihren Männern gewählt worden waren, und professionalisierten den sowjetischen Militärapparat. Im Januar 1919 erhielt die Rote Armee zudem eine Disziplinarordnung, die die der alten russischen Armee an Schärfe bei weitem überbot.

So sehr sich das Erscheinungsbild der Roten Armee dem anderer moderner Streitkräfte anpaßte, so unverkennbar blieben die Differenzen. Daß sie auch als Trägerin des Terrors gedient hatte und im Krieg die Regeln des Kriegsrechts mißachtete, waren keine zufälligen Defekte, sondern Merkmale einer Streitmacht der Weltrevolution, die Trotzki selbst dann noch entfesseln wollte, als die bolschewistische Führung längst eingesehen hatte, daß die Idee, man werde demnächst siegreich in Warschau, Budapest und Berlin einmarschieren, bis auf weiteres ein Wunschtraum bleiben mußte.