© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Kritik an ihm gilt als Tabu
Die Mischung aus türkischer Haft und linker Gesinnung macht Deniz Yücel für viele zu einer Art Märtyrer
Ronald Berthold

Die Freilassung des Welt-Journalisten Deniz Yücel hat einen Medienhype ausgelöst, der in jüngster Zeit wahrscheinlich nur mit der Wahl Martin Schulz’ zum SPD-Vorsitzenden vergleichbar ist. ARD und ZDF brachten zur Primetime Sondersendungen über die Entlassung des Korrespondenten aus türkischer Haft, die Tageszeitungen jubelten wie nach einem deutschen Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft, und in den sozialen Netzwerken machte sich unter Journalisten Euphorie breit; kaum einer, der den Hashtag „#FreeDeniz“ in der vergangenen Woche nicht verwendete.

Yücel, der nicht nur Türkei-Korrespondent der Springer-Zeitung, sondern gleichzeitig auch Mitherausgeber der radikalen Wochenzeitung Jungle World ist, hatte ohne Anklage ein Jahr in türkischer Untersuchungshaft gesessen. Über das von Yücel herausgegebene Blatt hatte die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder geschrieben, dort „werden regelmäßig unter anderem Fragestellungen des linksextremistischen antideutschen Spektrums aufgegriffen“.

Die Mischung aus Haft und linker Gesinnung macht aus Yücel für viele nun eine Art Märtyrer. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unterbrach seinen Aufenthalt bei der Münchner Sicherheitskonferenz und ließ sich nach Berlin bringen, um dort an einer Pressekonferenz teilzunehmen. Im Newsroom von Yücels Redaktion hatten sich Axel-Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt und der SPD-Politiker versammelt. Dutzende Mikrofone richteten sich auf das Trio. Die Aufregung unter den anwesenden Journalisten wirkte ein bißchen so, als sei gerade ein zweites Mal die Berliner Mauer gefallen.

Gabriel ließ sich die Chance nicht nehmen, die Freilassung Yücels als sein Verdienst zu vermelden. Poschardt dankte dafür dem um seine Zukunft kämpfenden Außenminister. Gleichzeitig nutzte der Welt-Chef die Gelegenheit, den Bogen zur „Zivilgesellschaft“ zu spannen, die dieses Ereignis vereine. Er betonte auch, wer nicht dazugehöre. Deniz Yücel verdanke seine Freilassung „jener bunten, ungewöhnlichen Mischung von Freunden und Aktivisten, die sich für Deniz im speziellen und für die Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit im allgemeinen stark gemacht haben. Diese Schar von Leuten kam aus allen politischen Lagern, abseits der Rechten und der galligen Yücel-Hasser der AfD.“

Andere Stimmen erzürnen den Chefredakteur

Wer Yücels Inhaftierung als Unrecht anprangerte, dessen antideutsche Haltung aber kritisierte, erntete Entrüstung. In einer vor allem pauschalisierenden Medienlandschaft machte nicht nur Poschardt aus Menschen, die sich differenziert geäußert hatten, „gallige Yücel-Hasser“. In einem Leitartikel für seine Zeitung sparte der Chefredakteur nicht mit Superlativen: Die solidarisch zu Yücel stehende „zivilgesellschaftliche Bewegung“ sei „eine der schönsten Erfahrungen meines Berufslebens“. Gleichzeitig erzürnte ihn, daß in den sozialen Netzwerken auch andere Stimmen zu vernehmen waren. Diese kritisierten zum allergrößten Teil nicht etwa die Freilassung Yücels, sondern mehr den Hype um einen Journalisten, der Thilo Sarrazin in Anlehnung an die Aussage der türkischstämmigen Schriftstellerin Mely Kiyak eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ genannt hatte, der „man nur wünschen kann, der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten“.

Auch daß er den Geburtenschwund in Deutschland als „Völkersterben von seiner schönsten Seite“ bezeichnet hatte, riefen nun AfD-Politiker wie die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel und Parteichef Jörg Meuthen in Erinnerung. Das Land, das sich massiv für seine Freilassung einsetzte, hatte Yücel als Nation betitelt, „deren größter Beitrag zur Zivilisationsgeschichte der Menschheit darin besteht, dem absolut Bösen Namen und Gesicht verliehen“ zu haben. Seit jeher falle Deutschland, so Yücel in einem Kommentar für die taz, „mit grenzenlosem Selbstmitleid, penetranter Besserwisserei und ewiger schlechter Laune auf“.

An anderer Stelle schrieb er, etwas Besseres als Deutschland finde sich allemal. Meuthen verlieh der Hoffnung Ausdruck, Yücel könnte in seiner Haft über diese Formulierung nachgedacht haben. Als Herausgeber der Jungle World ist Yücel auch verantwortlich für Plakate, die die Zeitung anläßlich des Jahrestages des Kriegsendes klebte: „Deutschland kaputt! Hurra!“

Doch Kritik an dem Reporter, der Papst Benedikt einst als „Hitler-Junge“ verunglimpft hatte, gilt als Tabu. Weder die zahlreichen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch Print-Leitmedien thematisierten Yücels Zitate, an denen sich im Netz Kritik entsponnen hatte. Die ambivalente Sichtweise auf den 44jährigen Redakteur blieb Fernsehzuschauern und Zeitungslesern daher unverständlich.