© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Er heulte nicht mit den Wölfen
Belletristik: Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher pendelt zwischen alteuropäischer Philosophie und Silicon-Valley-Träumereien
Felix Dirsch

Der Schweizer Autor Jonas Lüscher debütierte vor wenigen Jahren mit der vieldiskutierten Novelle „Frühling der Barbaren“, für die er mehrere Auszeichnungen erhielt und für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Jetzt hat er fulminant nachgelegt. Der Roman „Kraft“ besticht vor allem dadurch, daß es ihm gelingt, etliche zentrale Bildungsstoffe, primär aus der frühneuzeitlichen Philosophiegeschichte, mit technokratischen und finanzkapitalistischen Imperativen unserer Tage zu verweben. Wer gern Autoren liest, die wissenschaftlich-gelehrte Stoffe belletristisch verarbeiten, für den ist Lüscher ein Geheimtip.

Im Mittelpunkt steht der akademische Überflieger Richard Kraft, zweifach promoviert und habilitiert, Inhaber des Lehrstuhls für Rhetorik in Tübingen. Er durchlebt eine midlife crisis und läßt nochmals seinen Lebenslauf Revue passieren. Seine zweite Ehe steht vor dem Aus, während sich eine neue Beziehung anbahnt. Der Unterhalt für seine geschiedene und die aktuelle Ehefrau sowie die Versorgung von vier Kindern verschlingt fast das gesamte Ordinarius-Gehalt. Da wirkt es wie ein Glücksfall, daß sein früherer Studienfreund István, der mittlerweile in Stanford lehrt, ihn zur Teilnahme an einem Wettbewerb ermutigt. Ein schrulliger Medien-Mogul lobt im fernen Silicon Valley ein Preisgeld von einer Million Dollar aus, das derjenige erhält, der die Frage „Weshalb ist alles, was ist, gut und warum können wir es dennoch verbessern?“ in einem achtzehnminütigen Vortrag am besten beantworten kann.

Während er sich einige Zeit in eine einsame Studierstube in Kalifornien zurückzieht, um sich darauf vorzubereiten, schweifen seine Gedanken öfter ab. Biographische Einschübe erläutern seinen Lebenslauf. In den 1970er und 1980er Jahren absolviert er seine Studien und nimmt intensiv Anteil am Zeitgeschehen. Anders als die meisten Kommilitonen ist er von den ideologischen Wellen nach 1968 abgeschreckt. Gefallen findet er aber an neoliberalen Ansätzen, wie sie von Margaret Thatcher und Ronald Reagan personifiziert werden. Die Regierungsjahre von Helmut Kohl hingegen widern Kraft an. Die „geistig-moralische Wende“ mutiert schnell zu einem vergessenen Versprechen. Der „Genosse der Bosse“, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wird dafür gelobt, daß er mit der Agenda 2010 in die Fußstapfen des Grafen Lambsdorff getreten sei.

Ein Herzensanliegen für Lüscher ist die frühneuzeitliche Philosophie. Diese Präferenz hat wohl mit seinem unvollendet gebliebenen Promotionsprojekt zu tun. Gottfried W. Leibniz stellte einst die schicksalshafte Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leides in der Welt. Die Achillesferse eines jeden religiösen Glaubens, die man nach Auschwitz eindringlicher denn je debattiert. In seinen Referatsentwürfen beschäftigt sich Kraft auch mit modernen Varianten dieses alten Themas. Heute geht es meist nicht mehr um „Theodizee“, sondern um „Oikodizee“ (Joseph

Vogl) und „Technodizee“ (Hans Poser). Auch die grundlegenden Studien des verstorbenen Philosophen Odo Marquard zur Gegenwartsbedeutung der Theodizee werden nicht ausgelassen, ja, sie dürften den Autor sogar nachhaltig inspiriert haben.

Auf den ersten Blick stehen die Themen Kapitalismus und Theodizee unverbunden nebeneinander. Beide sind aber verknüpft durch die Vorstellung einer „unsichtbaren Hand“, die alles harmonisch regelt, wo vordergründig Chaos herrscht. Die Zeitreise in die Epoche der Aufklärung zählt zu den besonders geglückten Abschnitten des Romans. Zu den vielen hintergründig-ironischen Passagen gehört Krafts Verteidigung des Kapitalismus, obwohl klar ist, daß die Dampfwalze der globalen Deregulierung viel Unheil angerichtet hat. Schmunzeln ist häufig angesagt.

Das Scheitern des europäischen Bildungsbürgers im Technikzentrum der Neuen Welt steht außer Frage. Zu zaghaft und oberflächlich sind seine Versuche, die Preisfrage originell zu beantworten. Vornehmlich der letzte Teil des Romans gibt einige Einblicke in das Denken von Silicon Valley. Die dort hoch im Kurs stehende Technosophie der Transhumanisten entwirft eine Zukunft, in der Mensch und Maschine bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen. Die von dem Google-Chefingenieur Ray Kurzweil und anderen vertretene Theorie der Singularität bringt eine Intelligenzexplosion mit sich, die einen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte bedeuten dürfte.

Das sind für den herkömmlichen Geisteswissenschaftler die sprichwörtlichen böhmischen Dörfer. Als Ergebnis seiner doppelten Niederlage, persönlich wie wissenschaftlich, zieht Kraft die härteste aller möglichen Konsequenzen: Er begeht Suizid. Ist sein Tod aus eigener Hand ein Sinnbild für das Ende von „Good Old Europe“, das nicht mehr mithalten kann? Der Autor hat die Frage auf seine Weise beantwortet.

Jonas Lüscher: Kraft. Roman. C.H. Beck, München 2017, gebunden, 239 Seiten, 19,95 Euro