© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Verlorene soldatische Tugenden
Ehrgefühl, Tapferkeit, Opferbereitschaft: Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft
Thorsten Hinz

Ohne Schwierigkeiten ließe sich Arthur Schnitzlers 1900 veröffentlichte Novelle „Leutnant Gustl“ (auch: „Lieutenant Gustl“) zur Rechtfertigung einer postheroischen Gesellschaft heranziehen. Titelheld ist ein nichtssagender junger Mann, ein Schnösel, der sein Selbstwertgefühl ausschließlich aus der Uniform bezieht, die er trägt. Mit plumper Arroganz drängelt er sich an der Garderobe eines Wiener Konzerthauses vor, rempelt einen Bäckermeister an und beschimpft ihn. Der läßt das nicht auf sich sitzen, nennt ihn einen „dummen Bub“ und greift nach Gustls Säbel. Er droht ihm, die Waffe in aller Öffentlichkeit zu zerbrechen, die Stücke an sein Regiment zu schicken und ihn damit gesellschaftlich zu erledigen. Der Offizier ist dem Bäcker körperlich unterlegen, vor allem aber fühlte er sich durch die Demütigung tief getroffen. Die Zeiten, da ein Militär einem Zivilisten „den Säbel von hinten in den Leib rennen“ konnte, sind vorbei. Um die Schande zu löschen, beschließt er seinen Suizid, doch ehe er zur Tat schreiten kann, erfährt er, daß der Bäcker unerwartet an einem Schlaganfall gestorben und der Zeuge seiner Lächerlichkeit und Schwäche aus der Welt ist. Nun kann er ungestört in seiner Arroganz fortfahren.

Die Novelle wurde gleich bei ihrem Erscheinen als ein Werk über die Brüchigkeit des Ehrenkodex’ der k.u.k. Armee und der Donau-Monarchie im allgemeinen verstanden. Ein Ehrengericht aberkannte Schnitzler die Charge eines Oberarztes, weil er „als dem Offiziersrang angehörig (…) die Ehre und das Ansehen der österreichisch-ungarischen Armee geschädigt und herabgesetzt“ hatte.

Der Ethos wird unterminiert

Nach heutiger, postheroischer Lesart scheint die Novelle die Sinnlosigkeit des Militärischen und Soldatischen überhaupt zu belegen, deren Teil der Heroismus ist. „Postheroische Gesellschaft ist mehr als unheroische Gesellschaft“, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Sie erinnert sich daran, „daß sie mal heroisch war, daß sie heroische Kriege – oder was sie dafür gehalten hat – geführt hat und (beschreibt) die Verabschiedung davon als einen Lernprozeß (...).“ 

Münklers Definition enthält einerseits positive Elemente. Die Postheroiker befinden sich demnach in einem hochreflexiven Zustand und verfügen über einen geschärften historischen Sinn. Die Definition beinhaltet aber auch einen Widerhaken. Der „Lernprozeß“, den sie als solchen „beschreiben“, also aus subjektiver Sicht für sich beanspruchen, kann objektiv auch eine Selbsttäuschung sein, die auf falschen Annahmen über die eigene Geschichtlichkeit und Voraussetzungen beruhen und zu fatalen Schlußfolgerungen und existentiellen Gefährdungen führen.

Die postheroische Gesellschaft ist eine kollektive Befindlichkeit und zugleich die Summe individueller Umprägungen. In ihr entfällt, was einstmals Tugenden genannt wurde: Ehrgefühl, Opferbereitschaft, Tapferkeit, Selbstlosigkeit, die Orientierung auf ein kollektives Gelingen sowie die Fähigkeit, sich nötigenfalls unterzuordnen und Disziplin zu halten. Das alles ist höchstens noch in den inszenierten und kalkulierten Abenteuern der Freizeitindustrie vorhanden. Träger dieses verflossenen heroischen Ethos war der Soldat als die organisierte und institutionalisierte Form der Männlichkeit. Zu seinen Aufgaben gehörte es, das staatliche Territorium, den konkreten Lebensraum des Volkes, zu markieren und zu schützen. 

Dieses Ethos wird in mindestens vierfacher Weise unterminiert: Erstens durch den Hedonismus, der den individuellen Genuß über eine idealistische Gemeinwohlorientierung stellt. Aus dieser Sicht ist der Opfersinn geradezu verrückt. Man lebt schließlich nur einmal! Vertreter dieser Auffassung fühlen sich, zweitens, historisch auf der sicheren Seite, denn der militärische Ehrenkodex hat – bis zum äußersten angespannt und mißbraucht – im 20. Jahrhundert zu Katastrophen und tiefen Einbrüchen in das nationale Selbstbild geführt. In Deutschland war der Einbruch besonders dramatisch, doch auch die anderen europäischen Länder wurden davon ereilt.

Wo sich heute heroische Gemeinschaften bilden, die bereit sind, sich für den Staat in die Schanze zu werfen und – wie es im Fahneneid heißt – „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer (…) verteidigen“ wollen, werden sie, drittens, durch die Politik ins Absurde verkehrt. Der Soldat sieht sich im Extremfall in die Lage versetzt, am Hindukusch für eine Politik zu sterben, die den Hindukusch nach Deutschland verpflanzt und potentiell die eigene Familie gefährdet.

Viertens schließlich laufen die Diversity- und Genderpolitik, die Hypertrophierung der Homosexualität, die Sexismus- und speziell die MeToo-Debatten darauf hinaus, das Männliche und damit auch das Soldatische und die Wehrhaftigkeit lächerlich zu machen.

Auch die Herabsetzung Leutnant Gustls ist eine doppelte. Er wird sowohl gesellschaftlich wie als Gattungswesen in Frage gestellt. Die Novelle spielt im Wien des Fin de Siècle, in der Zeit des Doktor Freud. Natürlich symbolisiert Gustls Säbel seinen Penis, und indem der Bäcker ihn in einen eisernen Klammergriff nimmt und droht, ihn aus der Scheide zu ziehen, degradiert er seine Männlichkeit, woran der Leutnant fast zerbricht. Es wird also gar nicht der Begriff der Ehre in Frage gestellt, sondern ein überlebter Repräsentant wird verabschiedet. Macht und Gewalt, Autorität, Stärke und Sittlichkeit bleiben in der Welt, doch der zum schwächlichen Gecken herabgesunkene Leutnant ist als Hüter und Verteidiger eines gesellschaftlichen und staatlichen Ethos ungeeignet.

Zeichen von Unterwürfigkeit

Den Abschied von der soldatischen oder männlichen Ehre zugunsten von Hedonismus und Gender-Politik ist ein Produkt relativ homogener Nachkriegs- und Wohlstandsgesellschaften. Der Einbruch vormoderner „Barbaren“ hat offenbart, daß die post- in weiten Teilen eine unheroische und besinnungslose Gesellschaft ist. Noch stärker als der Terrorismus wirkt sich der alltägliche, molekulare Bürgerkrieg aus, der sich auf Schulhöfen, in Fußgängerzonen, im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, im Wohngebiet abspielt. Insbesondere die pazifizierten Einzelsöhne, auf die sich die Erwartungen und emotionalen Energien ihrer Familie konzentrieren, sehen sich hilflos den Familienverbänden mit drei, vier oder fünf Brüdern ausgesetzt, die von heroischen Kulturen und unmittelbaren Kriegserfahrungen geprägt sind.

Nach den Silversterübergriffen 2015 schrieb ein Welt-Kolumnist: „Was in Köln passierte, war kein Zusammenstoß des postheroischen Mannes mit dem heroischen Mann (wo bitte gilt es als heroisch, wenn Dutzende Männer einzelne Frauen niederprügeln und sexuell mißbrauchen?), sondern der Zivilisation mit der Barbarei. Konflikte werden in der Zivilisation mit Worten gelöst.“ Immerhin anerkannte der Schreiber die kulturelle Differenz, aber anstatt ihre politisch-militärische Brisanz herauszuarbeiten, reduzierte er sie auf eine moralische Frage. Das „Heroische“ beziehungsweise Kriegerische der Übergriffe waren die Annullierung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Migranten und ihr symbolischer Griff an den Säbel der deutschen Männer. Beides wiederholt sich täglich im Kleinen und deformiert das öffentliche Leben.

Die Hoffnung, durch Integration die Differenzen einzuebnen und das Konfliktpotential abzubauen, beruht auf der Annahme einer universellen Verführungskraft westlicher Lebensmodelle. Zur Zeit findet das Gegenteil statt: Der gegenderte Mann ruft bei vielen Einwanderern Widerwillen, ja Ekel hervor, und die Willkommenskultur wird als Zeichen von Unterwürfigkeit und akzeptierter Tributpflicht gedeutet. Wer Fremden den Eindruck vermittelt, kein Ehrgefühl zu besitzen und keinen Wert auf seinen guten Ruf zu legen, der untergräbt auch den normativen Ehrbegriff, das heißt den Anspruch auf Achtung der Persönlichkeit, der jedem zukommt.

Der amerikanische Alt-Right-Aktivist Jack Donovan hat dem von innen und außen in die Zange genommenen Mann geraten, in sich das Tier wieder zu beleben. Das klingt arg wildwest-romantisch und ist in der urban-arbeitsteiligen Gesellschaft bloß begrenzt praktikabel. Der Italiener Domenico di Tullio erzählt im Roman „Wer gegen uns“ von der Selbstorganisation junger Rechter in Rom. Sie mag gegen eine linksradikale Szene ausreichen, die das demographische Äquivalent bildet, doch gegen die quantitative Übermacht fremder Söhne hätten sie im direkten Konflikt keine Chance.

Bleibt vorerst nur der Versuch, die Lebenswelten zu separieren, um Zeit und Raum für die Besinnung auf einen neuen, zeitgemäßen Heroismus zu gewinnen. Kein Schlaganfall und kein Zauberschlag wird den bösen Traum von jetzt auf gleich beenden, er ist die Wirklichkeit.