© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

„Hitler muß fallen, damit Deutschland weiterlebt“
Christliche Glaubenshaltung und patriotische Empörung der „Weißen Rose“: Vor 75 Jahren wurden Hans und Sophie Scholl in München hingerichtet
Herbert Ammon

Vor dem inneren Auge erscheinen auch 75 Jahre nach dem Geschehen Szenen, die sich Nachkriegsdeutschen eingeprägt haben: die Flugblätter, die Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in den Lichthof der Münchner Universität herabregnen ließen, die Figur des Hörsaaldieners, die unerschrockene Widerrede der Geschwister an Roland Freisler vor dem „Volksgerichtshof“, die geteilte Zigarette vor dem Finale. Sodann der Ruf Hans Scholls auf seinem letzten Gang: „Es lebe die Freiheit!“

Kaum ins kollektive Gedächtnis gerückt ist bis heute die Persönlichkeit von Christoph Probst, dessen handschriftlichen Flugblattentwurf Scholl bei sich trug. Im Gestapo-Verhör mit dem aus Schnipseln zusammengesetzten Beweisstück konfrontiert, versuchte dieser, alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Am 22. Februar 1943 starben Christoph Probst, Hans Scholl und Sophie Scholl unter dem Fallbeil im Gefängnis München-Stadelheim. Christoph Probst ließ sich vor seinem Tod von dem katholischen Gefängnisgeistlichen taufen. Die Geschwister empfingen aus der Hand des evangelischen Pfarrers das Abendmahl.

Zwei Monate später, am 19. April, fand im Münchner Justizpalast ein zweiter Prozeß unter Vorsitz von Freisler statt. Er endete mit Todesurteilen gegen Willi Graf, Alexander Schmorell und Kurt Huber. Gegen zehn weitere Mitangeklagte wurden Haftstrafen von sechs Monaten Gefängnis bis zu zehn Jahren Zuchthaus verhängt. Falk Harnack, Bruder des am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichteten Protagonisten der „Roten Kapelle“ Arvid Harnack, wurde „mangels Beweisen“ freigesprochen. In einem weiteren, im Oktober 1943 in Donauwörth inszenierten Prozeß wurde Hans Leipelt – er hatte das letzte Flugblatt abgeschrieben und nach Hamburg gebracht sowie Hilfsaktionen für die Familie von Professor Huber organisiert – zum Tode verurteilt. Er wurde am 29. Januar 1945 hingerichtet.

„Den schwerverwundeten deutschen Geist erneuern“

Weithin unbekannt sind die Namen von sechs Angehörigen des Hamburger Zweiges der „Weißen Rose“, die noch bis kurz vor Kriegsende in Gefängnis und Konzentrationslagern zu Tode kamen. Die Hamburger Widerstandgruppe, gruppiert um den Buchhändler Felix Jud sowie um den linksorientierten Heinz Kucharski, war im Herbst 1943 durch Verrat des französischen Gestapospitzels Maurice Sachs aufgeflogen. Dem am 17. April 1945 vom „Volksgerichtshof“ Hamburg zum Tod verurteilten Heinz Kucharski gelang kurz vor seiner Exekution bei einem Bombenangriff die Flucht.

An derlei Fakten knüpfen sich Fragen nach Charakter und historisch-politischer Aneignung der „Weißen Rose“. Zwei Motive, einerseits die im reformkatholischen Kreis um Carl Muth („Hochland“) und Theodor Haecker befestigte christlich-religiöse Glaubenshaltung „wider den Boten des Antichrist“ (viertes Flugblatt) sowie die patriotische Empörung über „diese Verbrechercli

que“ durchziehen die ersten vier, von Hans Scholl und Alexander („Schurik“) Schmorell vor dem Kriegseinsatz als Sanitäter in Rußland 1942 verfaßten Flugblätter. „Bis zum Ausbruch des Krieges war der größte Teil des deutschen Volkes geblendet, die Nationalsozialisten zeigten sich nicht in ihrer wahren Gestalt, doch jetzt, da man sie erkannt hat, muß es die einzige und höchste Pflicht, ja heiligste Pflicht eines jeden Deutschen sein, diese Bestien zu vertilgen“, heißt es im zweiten, maßgeblich von Schmorell stammenden Flugblatt. Und im vierten: „Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von innen her zu erreichen.“

Im fünften Flugblatt („Aufruf an alle Deutsche!“) gilt der Appell der Absage an den „preußischen Militarismus“, dem Aufbau einer föderalistischen Staatenordnung sowie „eines vernünftigen Sozialismus“, dem Bekenntnis zu Freiheits- und Bürgerrechten als „Grundlagen des neuen Europa“. Patriotischer Furor spricht sodann aus jeder Zeile des letzten, von Professor Huber verfaßten Flugblatts: „Studentinnen, Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!“ In dem von Christl Probst geschriebenen Entwurf heißt es: „Hitler muß fallen, damit Deutschland weiterlebt.“

Taugliche Sätze für Gedenkreden? In der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland, in einer zusehends postchristlich indifferenten, multikulturell beflissenen Gesellschaft, wo selbst der Begriff „deutsche Leitkultur“ verpönt ist, wirken solche Sätze für viele befremdlich, ja peinlich.

Das war in Nachkriegsdeutschland noch anders. In seiner Gedenkrede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel in der Münchner Universität am 2. November 1946 sagte der Romanist Karl Vossler, „je stärker im Sturm der Ereignisse die seelische und geistige Erregung dieser Jugend sich auf das Politische warf, desto mächtiger begannen auch die religiösen Motive zu wirken.“

Vosslers Gedenkrede erschien 1947 mit Druckgenehmigung der amerikanischen Militärregierung. Aus einer im selben Jahr publizierten Gedenkschrift für Kurt Huber strich die Militärzensur politisch unerwünschte, offenbar zu patriotisch-konservative Passagen. Theodor Heuss erklärte 1953: „Dieser Aufschrei der deutschen Seele wird durch die Geschichte weiterhallen, der Tod kann ihn nicht, konnte ihn nicht in die Stummheit zwingen.“ In seinem vielgelesenen Werk „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ (1958) schrieb Golo Mann: „Hätte es aber im deutschen Widerstand nur sie gegeben, die Geschwister Scholl und ihre Freunde, so hätten sie alleine genügt, um etwas von der Ehre des Menschen zu retten, der die deutsche Sprache spricht.“

Gehörte der Bezug auf den deutschen Widerstand von Anfang zum antifaschistischen Selbstbild der DDR, so fand in der Phase der Staatsgründung die Erinnerung an die „Weiße Rose“ Ausdruck in zahlreichen „Geschwister-Scholl“-Benennungen von Straßen und Bildungseinrichtungen. Andererseits erwies sich diese Traditionspflege für das Pankower Regime als zwiespältig, da sich um 1950 an verschiedenen Orten, etwa in Eisenberg/Thüringen, oppositionelle Jugendgruppen bildeten, die sich in Flugblättern auf die „Weiße Rose“ beriefen. 

Umgekehrt konnte die DDR mit dem Indologen Heinz Kucharski, der in Leipzig als Verlagslektor – und als Stasi-IM im Literatenzirkel um Wolfgang Hilbig und Siegmar Faust – wirkte, immerhin ein Mitglied der „Weißen Rose“ vorweisen. Noch 1961 erschien eine Briefmarke mit den Porträts von Hans und Sophie Scholl. Nicht auszuschließen, daß die DDR damals auch Gemeinsamkeiten mit dem nationalpazifistischen Vater Robert Scholl, Mitglied in Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei, bekunden wollte.

Im Westen prägte das 1952 erschienene Buch Inge Scholls das Bild der „Weißen Rose“. Die mit Otl Aicher, er hatte Hans Scholl in den Kreis um Carl Muth eingeführt, verheiratete Schwester war bestrebt, die anfängliche NS-Begeisterung der Scholl-Kinder, ihre durch Verurteilung wegen „bündischer Umtriebe“ beförderte Abkehr nur in kurzen Strichen anzudeuten. Die Verbindung der Familie Scholl zu dem Nationalkommunisten Richard Scheringer kam überhaupt nicht in den Blick. Im Zentrum stand das christlich-humanistische Zeugnis der Geschwister.

Späterer Deutungskampf um Ideale der „Weißen Rose“

Anno 1968 charakterisierte Christian Petry („Studenten aufs Schafott“) den Widerstandskreis als Repräsentanten einer Tradition, „die eine unpolitische, christliche, idealistische bürgerliche, und sehr deutsche Welt gewesen ist“. Eine Generation später durchforstete Sönke Zankel in einer am Geschwister-Scholl-Institut der Münchner Universität vorgelegten Dissertation die Flugblätter auf Vereinbarkeit mit den Geboten bundesrepublikanischer Tugendlehre. In dem 2006 veröffentlichten Buch häufen sich die Fehlinterpretationen. Dem vom jungkatholischen „Neudeutschland“ geprägten Willi Graf attestierte er lutherisches Obrigkeitsverständnis nach Römer 13, Theodor Haecker Motive eines christlichen Antijudaismus. Alexander Schmorell sei „russophil“, kein „Intellektueller“ gewesen, habe zwischen guten und schlechten Nazis unterschieden. Das Symbol, von Scholl im Verhör auf Clemens von Brentanos „Romanzen vom Rosenkranz“ zurückgeführt, erfuhr folgende Deutung: „Die ‘Weisse Rose’ war für Scholl ihrem Ursprung nach ein Symbol der Konterrevolution gegen die demokratischen Ideen von 1789 und dieses Zeichen benutzt er bewußt.“ Erst im fünften Flugblatt („An alle Deutsche“!) sei ein „Kurswechsel“ vom verengten Nationalpatriotismus hin „zur Demokratie“ erkennbar. Ähnlich distanziert urteilt Wolfgang Benz über den „juvenilen Idealismus“, den „elitären Grundzug im Denken“, der sich in Schmorells offen bekundeter Bevorzugung einer autoritären Staatsform gegenüber der demokratischen manifestiere.

Diverse Institutionen widmen sich dem Vermächtnis der „Weißen Rose“. Zu den Zielen der 1987 gegründeten „Weiße Rose Stiftung“ gehört der „Einsatz für Toleranz, Demokratie und Menschenwürde – gegen Ausländerfeindlichkeit, Rechtsradikalismus, Neonazismus, Antisemitismus“. Vor diesem Hintergrund traten in den 1990er Jahren mit Hans und Susanne Hirzel zwei Scholl-Gefährten nonkonform im Umfeld der Partei „Die Republikaner“ hervor. Angehörige der Widerstandskämpfer gründeten 2003 in der Abtei St. Bonifaz das „Weisse Rose Institut“.

Erinnert wird in beiden Einrichtungen an die weniger bekannten Namen. Einer von ihnen, aus einer armenisch-russischen Emigrantenfamilie stammend, war Nikolaj Nikolaeff-Hamazaspian (1920–2013), der Schmorell vor dessen mißglückter Flucht seinen bulgarischen Paß gab. Von ihm stammt der Hinweis, die „Weiße Rose“ stehe in der Legende vom Großinquisitor in den „Brüdern Karamasow“ als Zeichen der Auferstehung. In solchem Kontext gewinnt die Heiligsprechung Schmorells als „Neumärtyrer Alexander von München“ durch seine Russisch-Orthodoxe Kirche angesichts banaler Zivilreligion einen transzendenten Sinn.