© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

In die Seele dringen
Erlebte Zeit: Ein Essay über die ungeheure Wirkmacht der Musik
Stefan Barme

Die Frage, was Musik ist, ist ebenso von nachrangiger Bedeutung wie die Frage nach ihrem Ursprung: Ersteres wissen wir, da wir täglich von Musik umgeben sind, letzteres können wir nicht wissen, da die Herkunft dieses Phänomens zu den Anfängen der Menschheit führt, über die wir viel zuwenig wissen, um eine verläßliche Antwort geben zu können.

Musiklehrer, Physiker und überhaupt die allermeisten Menschen werden Musik wohl als Folge von Tönen beziehungsweise Klängen definieren, wohingegen philosophisch interessierte und belesene Zeitgenossen vermutlich betonen werden, daß Musik sich jenseits dieser „oberflächlichen“ physikalischen Definition als erlebte Zeit auffassen läßt beziehungsweise als „ästhetisch wahrnehmbar gemachte Zeit. Und zwar Gegenwart“ (Hermann Hesse); esoterisch oder mystisch gestimmte Menschen mögen der Musik einen göttlichen Ursprung zuschreiben, wie es bekanntlich schon die alten Griechen taten, während andere die vergleichsweise prosaische Erklärung für überzeugend halten werden, wonach Melodien auf dem Versuch des Menschen beruhen, Naturlaute nachzuahmen, wie etwa Vogelstimmen oder das Rauschen des Windes, das ein Gefäß zum „Singen“ bringt.

Nach Rilke ist Musik an keinen Zweck gebunden

Doch all diese Aspekte treten weit in den Hintergrund gegenüber der Frage, warum die Musik so eine ungeheure Macht über den Menschen hat, warum sie von allen Künsten jene ist, die sowohl am unmittelbarsten als auch am wirkmächtigsten die menschliche Seele anspricht. Daß dies so ist, darüber herrscht – zumindest in der abendländischen Kulturgeschichte – Einigkeit. Die eindrucksvollste Beschreibung der Urgewalt der höchsten aller Künste dürfte wohl die folgende sein, die aus Shakespeares Feder stammt: 

„Orpheus’ Laute hieß die Wipfel,/ Wüster Berge kalte Gipfel,/ Niedersteigen, wenn er sang./ Pflanz’ und Blüt’ und Frühlingssegen/ Sproßt’, als folgten Sonn’ und Regen/ Ewig nur dem Wunderklang.// Alle Wesen, so ihn hörten,/ Wogen selbst, die sturmempörten,/ Neigten still ihr Haupt herab./ Solche Macht ward süßen Tönen;/ Herzensweh und tödlich Sehnen/ Wiegten sie in Schlaf und Grab.“ (Heinrich VIII., 3. Akt, 1. Szene; Übersetzung: Wolf Heinrich von Baudissin)

Prägnanter wurde der Sachverhalt von Shakespeare in seiner Komödie „Viel Lärm um nichts“ formuliert, wenn er den Benedict sagen läßt: „Ist es nicht seltsam, daß Schafsdärme die Seele aus eines Menschen Leib ziehen können?“ Aber wieso und auf welche Weise, das wußte auch das Genie aus Stratford nicht – und bis heute gibt es auf diese Frage weder eine konsensuale noch eine weitgehend akzeptierte Antwort. Die im Vergleich zu den anderen Künsten stärkere Wirkmacht der Musik mag darin begründet liegen, daß sie unter allen Kunstformen jene ist, die „am wenigsten an die Wirklichkeit gebunden [ist]“, wie der Stalker in Andrei Tarkowskis gleichnamigem Film aus dem Jahre 1979 erklärt und hinzufügt, daß sie „wie durch ein Wunder in die Seele [dringe]“.

Auf zwei weitere mögliche Erklärungen für die Macht der Musik über den Menschen stößt man bei Rilke. In seinem Gedicht „An die Musik“ heißt es „Du Sprache wo Sprachen enden“, womit freilich gemeint ist, daß die Musik nicht der Limitierung durch den Horizont, der unsere verbalen Sprachen begrenzt, unterliegt, sondern weit darüber hinausreicht. „Keine Sprache kann es mit den Fähigkeiten der Musik zu polysemantischer Gleichzeitigkeit, zu unübersetzbarer, vielfältiger Bedeutung der Formen aufnehmen. Das Vermögen der Musik, Emotionen zugleich besonderen und allgemeinen, privaten und öffentlichen Charakters einzubeziehen, übersteigt jenes der Sprache bei weitem“, schrieb George Steiner in seinem Groß-essay „Gedanken dichten“.

In einem anderen Gedicht mit dem Titel „Musik“ hebt Rilke, der sich selbst als unmusikalischen Menschen betrachtete, hervor, daß Musik an keinen Zweck gebunden sei („Du mehr als wir …, von jeglichem Wozu befreit …“) und aufgrund des ihr dadurch zukommenden rätselhaften, geheimnisvollen Charakters „mehr als wir“ sei.

Eine der anspruchsvollsten und zugleich auch plausibelsten Erklärungen für die außergewöhnliche Kraft, mit der die Musik auf den Menschen einwirkt, bietet Arthur Schopenhauer, der zu den Philosophen gehört, die sich am intensivsten mit dem Phänomen Musik auseinandergesetzt haben und sie auch am meisten verehrten. In seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1819) faßt Schopenhauer den Willen nicht in seiner allgemeinsprachlichen Bedeutung, sondern als das innere Wesen der Welt, als das universale Prinzip des Lebens, das ein blindes und zielloses Streben ist, das in allen Dingen, Tieren, Pflanzen, Menschen waltet. Durch kontemplative Betrachtung kann der Mensch den Willen erkennen, jedoch nicht den Willen an sich, sondern vielmehr das raum- und zeitunabhängige reine Wesen der Einzeldinge, die Ideen der Dinge, wie Schopenhauer im Anschluß an Gedanken Platons sagt.

Gemeint sind hiermit die ewigen Urformen der Dinge: das Urbild des Baumes, das Urbild des Steines, das Urbild des Menschen usw., die uns in der Wirklichkeit in vielfältigen Gestaltungen entgegentreten. Das Erkennen dieser Ideen bildet die Grundlage für die Kunst, denn diese wiederholt die durch Kontemplation erfaßten ewigen Ideen, „das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt“ in jeweils unterschiedlicher Form (Malerei, Skulptur, Poesie usw.).

Schopenhauer sieht in ihr ein Abbild des Willens 

Nach Schopenhauer nimmt hier die Musik, genauer gesagt die Musik in ihrer reinsten Form, die Instrumentalmusik, eine Sonderstellung ein: Ihre Wirkung ist sehr viel größer als die aller anderen Künste, da sie im Unterschied zu diesen nicht die Ideen wiederholt beziehungsweise nachbildet, sondern unmittelbares „Abbild des Willens selbst“ ist und damit das reine Wesen der Welt zum Ausdruck bringt. Da die Musik als unmittelbare Darstellung des Willens keine Verknüpfung mit den Einzeldingen beziehungsweise den ihnen innewohnenden Ideen aufweist, die Welt der Ideen also sozusagen überspringt, ist sie gänzlich unabhängig von der Erscheinungswelt. Daher gelingt es der Musik auch, auf unaussprechlich innige Weise „alle Regungen unseres innersten Wesens“ wiederzugeben, und zwar „ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 52) – und somit ist die Musik nicht nur die tiefste Darstellung des menschlichen Wesens, sondern darüber hinaus vermag sie auch, uns für Augenblicke von unseren Leiden zu befreien.

Doch auch diese philosophische Erklärung der Wirkmacht der Musik ist nicht gänzlich gegen Einwände gefeit, denn bekanntlich können wir uns von Leid und Schmerzen auch mittels Alkohol oder anderer Drogen für eine bestimmte Zeit befreien. Und in bezug auf die Unabhängigkeit der Musik von der Welt der Erscheinungen ist zu betonen, daß diese deshalb keine sonderlich überzeugende Erklärung für die besondere Wirkung dieser Kunst sein kann, weil diese Eigenständigkeit lediglich bei der Instrumental-, nicht jedoch bei der redegebundenen Vokalmusik gegeben ist, die sich aber dennoch als wirkungsstärker als die übrigen Künste erweist. Es bleibt also dabei: Die Frage nach der Ursache für die enorme Wirkung der Musik auf den Menschen wartet noch immer auf eine zufriedenstellende Antwort.

Im Hinblick auf die Wertschätzung der Tonkunst und die Empfänglichkeit für ihren Zauber zeigen sich freilich sehr große individuelle Unterschiede: Während Musik für einige geradezu (über-)lebenswichtig ist, stellt sie für andere nur eine marginale Erscheinung, ein durchaus verzichtbares Mittel der Zerstreuung dar. Als ähnlich vielfältig erweist sich auch das Nachdenken über diese Kunstgattung, denn schöngeistige Menschen rücken ganz unterschiedliche Aspekte ihres Wesens und ihrer Wirkung in den Vordergrund. Für Kierkegaard und Thomas Mann beispielsweise ist die Musik etwas Mystisch-Dämonisches, Tolstoi prangerte sie sogar an, weil er nur zu gut wußte, daß sie mit ihm machen konnte, was sie wollte, und für den rumänischen Philosophen Emil M. Cioran, der die Musik als „Sprache der Transzendenz“ betrachtete, als ein eigenes, unbegreifbares Universum, bestand die Schattenseite ihrer Macht darin, daß sie alles andere als banal, ja als sinnlos erscheinen lasse: „Schrecklich bei der Musik ist, daß danach nichts mehr einen Sinn hat, denn nichts, wirklich nichts, kann bestehen, wenn man aus ihren ‘Wundern’ heraustritt. Mit ihr verglichen kommt uns alles entwürdigt, unnütz, banal vor. Ich kann verstehen, daß man sie haßt und der Versuchung erliegt, ihre Wunder der Zauberei, ihr ‘Absolutes’ einem Trugbild gleichzusetzen. Man muß unbedingt gegen sie reagieren, wenn man sie zu sehr liebt.“

Auf Robert Walser hingegen hatte die Musik keine zersetzende Wirkung, und für ihn besaß sie auch nichts Bedrohliches, denn offenbar kam es beim Hören von Musik in seiner Seele zu einer sanften melancholischen „Gegenreaktion“, die ihn vor dem ihr auch innewohnenden Dämonisch-Dionysischen bewahrte: Obschon auch er eine tiefe Liebe zur Musik empfand („Musik ist mir das Süßeste auf der Welt“), notierte er in seiner Betrachtung „Musik“ auch: „Musik stimmt mich immer traurig, aber so wie ein trauriges Lächeln ist. Ich möchte sagen: freundlich-traurig. Die lustigste Musik vermag ich nicht lustig zu finden, und die schwermütigste Musik ist für mich keineswegs besonders schwermütig und entmutigend. Vor der Musik habe ich nur immer die eine Empfindung: mir fehlt etwas. Nie werde ich den Grund dieser sanften Traurigkeit erfahren, nie darnach forschen wollen. Ich wünsche es nicht zu wissen. Ich wünsche nicht alles zu wissen.“

Nietzsche und Hesse halten Musik für unentbehrlich 

Andere musikliebende Feingeister haben bei ihrem Nachsinnen über Musik (ausschließlich) die beglückenden, für den Menschen heilsamen Seiten dieser höchsten unter den Künsten hervorgehoben, so wie etwa die Romantiker – verwiesen sei hier vor allem auf Wackenroders Schriften zur Musik – und Schopenhauer, die die Musik als Erlösung, als Befreiung von der als Jammertal erkannten Welt sahen. Ebenso wie Nietzsche („Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“) hielt Hermann Hesse die Musik sogar für einen unentbehrlichen Bestandteil des menschlichen Daseins: „Aber ich brauche stets Musik, und sie ist die einzige Kunst, die ich bedingungslos bewundre und für absolut unentbehrlich halte, was ich von keiner andern sagen möchte.“

Mehr ist nicht zu sagen: Warum die Musik auf (viele) Menschen eine so außergewöhnlich starke Wirkung hat, wissen wir nicht, und vielleicht sollten wir mit Robert Walser auch gar nicht wünschen, es zu wissen, denn die Musik könnte durchaus etwas von ihrem Zauber verlieren, wenn wir alles über sie wüßten: „Das Rätsel, das wir lösen können, verachten wir sehr schnell“ (Emily Dickinson). Daher sind wir wohl bestens beraten, wenn wir uns mit einem Diktum von Giuseppe Verdi bescheiden: „In der Musik gibt es etwas, das mehr ist als Melodie, mehr als Harmonie: die Musik.“ 






Dr. phil. habil. Stefan Barme, Jahrgang 1966, ist Privatdozent für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft und Übersetzer.

 www.stefanbarme.de