© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Genuß ohne Reue gibt es nicht mehr
Verzicht auf Speisen: Am Aschermittwoch hat die Fastenzeit bis zum Anfang der Karwoche begonnen
Eberhard Straub

Die Fastenzeit, die am Aschermittwoch begonnen hat und vierzig Tage dauert bis zum Karsamstag, dem Samstag vor dem Osterfest, ist auch in der Katholischen Kirche nur noch eine historische Erinnerung. Kein katholischer Christ wird mehr dazu angehalten, sich manche Genüsse und Vergnügen im nie rastenden Amüsierbetrieb während dieses Abschnittes im Kirchenjahr zu versagen, wovon allerdings die liturgischen Texte weiterhin reden.

Diese haben nichts mehr mit den Vorstellungen von einem gelungenen Leben in der allerneuesten Neuzeit zu tun, weil sie mahnen, den Körper und seine Bedürfnisse, überhaupt irdische Schätze nicht allzu wichtig zu nehmen, die als eine Phantasie der Zeit verlöschen, verglühen und zu Asche werden. Alles Fleisch ist wie Gras und all seine Herrlichkeit wie des Grases Blume; das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen. Doch es gibt in diesem Reich des Todes eine einzige Gewißheit und einen festen Halt: des Herrn erlösendes und befreiendes Wort. Das versicherte der Apostel Petrus allen, die zu sehr auf irdischen, hinfälligen Tand hoffen.

Wer sorglos lebt, verwirkt seine Selbsterlösung

Im Fitneßstudio, in der Diätküche, in den mannigfachen Einrichtungen zur Körperertüchtigung, wird mit einer anderen Botschaft geworben, daß nämlich ein schöner Körper jedem zu seinem Glück verhilft, da Attraktivität erfolgreich macht und die Seele im Gleichgewicht hält. Also: Laß keine trüben Gedanken aufkommen, Arbeite an dir selbst! Erkenne dich selbst und deine Möglichkeiten, mache das Beste aus dir! Das sind die Aufgaben, vor denen keiner verzagen darf.

Diese Heilserwartungen setzen Energien frei, um in ständiger Selbstkontrolle auf alle möglichen Signale zu achten und bewußt zu leben, damit der körperliche Apparat immer funktionstüchtig und der Seelenraum aufgeräumt bleibt. Seine Selbsterlösung verwirkt, wer sorglos vor sich hin lebt. Denn er vernachlässigt seine Potentiale und gefährdet damit seine Gesundheit, ja mindert seine Menschenwürde, die sich in gesunder Frische vollendet, in der beruhigenden Gewißheit, dauernd in Form zu sein. Solche Selbstzufriedenheit erfordert Anstrengung, Disziplin, Schweiß, gar Tränen, auf jeden Fall Verzicht. 

Das Heil findet sich in der Gesundheit

Die ehedem christliche Sorge, das Mißtrauen in die verführerische Welt mit ihren verlockenden Angeboten, ist gar nicht verschwunden.  Auch nicht die schreckliche Angst, der Heillosigkeit zu verfallen, also ungesunden Trieben oder Verlockungen zu erliegen. Das Heil findet sich in der Gesundheit, sie ersetzt Gott, das summum bonum, das höchste Gut. Wer ungesund lebt erweist sich als Sünder, möglicherweise als rettungslos verlorener, weil rebellierend gegen den Heiligen Geist, der sich in der Ernährungswissenschaft offenbart. Die ehedem christliche Sündhaftigkeit äußert sich jetzt in unaufgeklärter Genußsucht und mangelnder Bereitschaft, auf die Wissenschaft zu hören. Wer bedenkenlos ißt und trinkt, erweist sich als sittlich unmündig und verzögert mit seinem schlechten Beispiel das Reifen zur Mündigkeit. 

Die Fastenzeit wird daher von vielen mündigen Verbrauchern als willkommener Anlaß genutzt, um durch vorübergehenden Verzicht auf Genußmittel beispielhaft zu bekunden, nicht abhängig zu sein von allerlei betörenden Reizen und etwa unbedacht die Sorge um die Gesundheit geringzuschätzen.

In der einst christlichen Fastenzeit, der inneren Einkehr gewidmet, weil der unzulängliche Mensch auf die rettende Gnade seines Gottes angewiesen ist, ereignet sich mittlerweile der Triumph des Willens über alles allzu Menschliche. Willensstarke fordern dazu auf, ihrem Beispiel zu folgen. Besonders kritisch bewegte Geister wollen mit ihrer zeitweiligen Enthaltsamkeit auch ein Zeichen setzen, wie gesund gerade Konsumverzicht sein kann, solange er mit Bedacht geübt wird und nicht in Kultur- oder Systemkritik ausartet, die ein gesundes Denken in ungesunde Richtungen drängt.

 Christus mahnte seine Jünger, ihr Fasten möglichst unauffällig zu begehen, sich nicht anmerken zu lassen, Enthaltsamkeit zu üben. Ihre Tugend gelte ja nicht der Welt, sondern dem Vater, der im Verborgenen ist. Die Zeitgenossen, die für einige Wochen standhaft vor der verführerischen Macht irdischer Verlockungen bleiben, brauchen freilich ein Publikum, dem sie ankündigen und zeigen, wie sehr sie den Geboten der Vernunft folgen, wenn sie die eigenen Begehrlichkeiten zügeln, Maß halten, Verzicht leisten und sich selbst überwinden. Dabei haben gewissenhafte Menschen doch schon während des gesamten übrigen Jahres unentwegt bewiesen, sich gar nicht leichtsinnig zu ernähren. Essen und Trinken sind längst zu einer ungemein ernsten, durch und durch problematischen Beschäftigung geworden. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, bevor Sie in einen Apfel beißen! 

Gemeinsames Essen dient der Lebensfreude

Der Mensch soll, um verantwortungsvoll genießen zu können, auf Genußforscher Obacht geben, die ihn dazu anleiten, sich sorgfältig auf etwas so Unberechenbares einzulassen wie die lebensnotwendige Aufnahme von Nahrung, die in genießerischer Freude falsch genutzt, dem Leben gar nichts nutzt, sondern den Lebensgenuß einschränkt, gar aufhebt.

Der Genuß überhaupt ist fragwürdig geworden, seit wertvolles, gesundes Leben auf definierte Muskeln und Fettarmut angewiesen ist. Schon ein Bauchansatz mindert die Lebensqualität. Der Körper steckt voller Problemzonen, die Aufmerksamkeit verlangen, um nicht unglücklich und krank zu werden. Das Leben ist überhaupt für jeden ein Problem, der vergißt, vor dem Essen und Trinken genau zu prüfen, ob die Lebensmittel tatsächlich für sein Leben taugen. Der Mensch ist, was er ißt! Wer sich falsch ernährt, verfehlt sein Leben und sein Menschsein. In diesem Sinne wollen nun auch Parteien sich für eine gesunde Ernährung und ein gesundes politisches Verhalten nachhaltig einsetzen. 

Die Christen, die sich einst mancher Genüsse enthielten, taten das im vollen Bewußtsein der Lust und der Freuden, die mit Speis und Trank und Geselligkeit verbunden sind. Sie konnten unter Umständen prassen und schwelgen, gerade weil das Leben kurz und meist karg war. Wir haben jede Unbefangenheit vor dem Genuß verloren. Alle möglichen Tabellen mit Werten, Unwerten, Schadstoffen und Krankheitserregern wollen beachtet sein, um gesundes Leben nicht zu beeinträchtigen. Einen Genuß ohne Reue gibt es nicht mehr. Vor solchen verantwortungslosen Empfehlungen können Ernährungswissenschaftler nicht laut genug warnen, die überall Gefahren und Gifte entdecken und mahnen, gerade beim Einkauf und bei der Arbeit in der Küche mit stets wachem Problembewußtsein Folgen und Nebenwirkungen des möglicherweise gar nicht löblichen Tuns zu bedenken. Nahrung ist Medizin, die Nahrungszufuhr soll den Körper widerstandsfähig machen und verschönern. Sie darf deshalb nicht dick machen. Wer dick ist, veranschaulicht auf unübersehbare Weise, falsch zu leben und damit sein Leben zu verfehlen.

Das gemeinsame Genießen bei Speis  und Trank, ohne bedenkliche Rücksicht auf Kalorien, Schadstoffe, auf allzu kräftige Gewürze und anderes Tandaradei, stiftete einmal Frieden, versöhnte Feind und Freund. Die menschliche Kultur beginnt damit, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen, Brot zu brechen, es einander zu reichen und Wein dabei auf das gemeinsame Wohl zu trinken. Gemeinsames Essen diente der Lebensfreude, nicht dem Körper oder der Gesundheit. Gastfreundschaft konnte ungemein ausschweifend sein, gerade weil sich mit ihr die unaufhebbare Spannung zwischen dem Ich und dem Anderen in einer Welt voller Besonderheiten mildern ließ.

Davon möchten die Wächter über die private und öffentliche Gesundheit nichts wissen. Nur mit Gleichgesinnten sitzen sie zusammen im Vertrauen auf die leicht verdaulichen Rezepte ihrer  Diätköche. Sie mißtrauen dem Genuß und den Genießern und schwärmen für Fastenkuren, unberührt vom Rat des Menschenfreundes Goethe: „Komm nun aber und genieße / Denn die Sonne scheidet bald.“