© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

„Es lebe die Freiheit!“
Vor 75 Jahren fiel die Blüte der deutschen Jugend nicht nur an den Fronten, sondern auch unter dem Fallbeil der Nationalsozialisten. Robert M. Zoske überrascht mit neuen Erkenntnissen über Hans Scholl, den wahren Kopf der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“
Moritz Schwarz

Herr Dr. Zoske, warum ein Buch über Hans Scholl? War nicht seine Schwester Sophie die führende Figur der „Weißen Rose“? 

Robert M. Zoske: In Deutschland gibt es etwa 150 Institutionen, die nach Sophie oder den Geschwistern Scholl benannt sind, aber nur zwei Schulen in Bayern, die allein nach Hans heißen. Zudem steht im Lichthof der Uni München – dort wo die Geschwister am 18. Februar 1943 ihre letzte Flugblattaktion durchführten, bei der sie verhaftet wurden – sowie in der Ruhmeshalle der Walhalla bei Regensburg, wo bekanntlich die größten Deutschen geehrt werden, jeweils nur die Büste von Sophie. 

Folglich war Hans nicht so wichtig? 

Zoske: Das könnte man daraus schlußfolgern. Tatsächlich aber war es genau umgekehrt. 

Inwiefern?

Zoske: Gegründet wurde die „Weiße Rose“ 1942 in München von Hans Scholl und Alexander Schmorell. Sophie wußte zunächst nicht einmal davon. Hauptaktivität war die Verbreitung von insgesamt sechs verschiedenen Flugblättern, die zuletzt zu Tausenden verteilt wurden. Davon hat Hans Nummer eins, vier und fünf, Hans und Alexander Schmorell gemeinsam Nummer zwei und drei und Professor Kurt Huber Nummer sechs verfaßt. Damit stammen etwa 65 Prozent aller Flugblatt-Texte von Hans. Von Sophie dagegen null, ja sie war bei den ersten vier Flugblättern noch gar nicht dabei, stieß überhaupt erst zum Schluß zur Gruppe. 

Wie erklärt sich dann ihre überragende Popularität? 

Zoske: Nach dem Krieg suchte man Vorbilder, und Sophie paßte als junge, engagierte Frau und Studentin ins Bild, also wurde sie herausgestellt. 

Gibt es keine sachlichen Gründe?

Zoske: Doch, es gibt sachliche Gründe, auf jeden Fall, denn sie organisierte die Verteilung der letzten zwei Flugblätter. 

Beruht ihr Mythos nicht auf der Unbeugsamkeit, mit der sie in den Tod ging? 

Zoske: Ihr Mut und diese Unbeugsamkeit sind sicher die Hauptgründe. Doch das trifft ebenso auf Hans zu, der aber nicht annähernd ihre Popularität genießt. Dabei machten beide im Verhör aus ihrem Geständnis ein mutiges Bekenntnis. Jedoch baute der Gestapo-Beamte, der Sophie verhörte – anders als bei Hans – ihr eine goldene Brücke, als er ihr nahelegte auszusagen, sie sei vom Bruder zu den Aktionen verleitet worden, was sie vor dem Schafott bewahrt hätte. Sie ging jedoch nicht darauf ein. 

Warum nicht? 

Zoske: Weil die Scholls in gewisser Weise radikal waren, sie waren weder fähig noch willens, Kompromisse zu machen. 

Auch wenn Sophies Verehrung berechtigt ist: Ist die Verdrängung ihres viel bedeutenderen Bruders nicht Geschichtsklitterung?

Zoske: Sophie war quasi Managerin der letzten beiden Flugblattaktionen. Doch sie war weder Gründerin noch treibende Kraft, noch Vordenkerin der „Weißen Rose“, wie heute viele annehmen, weil sie die zentrale Figur des Erinnerns ist. Das aber waren tatsächlich Hans Scholl und Alexander Schmorell. Unmittelbar nach dem Krieg war noch korrekt vom Hans-Scholl- oder Scholl-Schmorell-Kreis die Rede. Das ändert sich, als in den siebziger Jahren Sophie von der Jugend als Identifikationsfigur entdeckt wurde. Heute kennt man Hans öffentlich vielleicht noch unter dem Stichwort „War das nicht ihr Bruder?“, während Schmorell nur Eingeweihten etwas sagt.   

Aber ist das nicht unwahrhaftig und ein inakzeptabler Zustand? 

Zoske: Extrem zugespitzt könnte man das so sagen. Und tatsächlich stehen in meinen Vorträgen mitunter Sophie-Fans auf und beschweren sich, ich schmälerte ihre Bedeutung. Nichts ist weniger meine Absicht als das. Aber Hans und nicht sie war der Mittelpunkt der Gruppe. 

Sie stellen das fest; warum aber kritisieren Sie nicht offensiv, daß das „Weiße Rose“-Gedenken folglich nicht historisch aufrichtig, sondern politisch instrumentalisiert ist? 

Zoske: Wer sich auf die „Weiße Rose“ beruft, muß das mit guten inhaltlichen Argumenten untermauern. Doch nicht nur bei der „Weißen Rose“ ist das so. 

Aber muß man das nicht aufdecken und korrigieren? Wenn sogenannte Rechte angeblich oder tatsächlich Gedenken instrumentalisieren, gilt das als „widerlich“ und  „ekelhaft“ und darf nicht zugelassen werden. Warum gilt das nicht auch hier?

Zoske: Nehmen Sie die Erinnerung an die Attentäter des 20. Juli 1944: Deren nationalkonservative Ausrichtung wird bei Gedenkveranstaltungen oft auch nicht so thematisiert, wie es historisch angemessen wäre. Aus heutiger Sicht waren das keine Musterdemokraten. Also konzentriert man sich beim Erinnern auf ihre Tat und die Gewissensfrage.  

Sie akzeptieren also letztlich die geklitterte Erinnerung an die „Weiße Rose“? 

Zoske: Ich sehe keine geklitterte, aber eine korrektur- und ergänzungsbedürftige Wahrnehmung. Sonst hätte ich mein Buch nicht geschrieben. Und ich echauffiere mich nicht, weil ein selektiver Blick auf die Geschichte gang und gäbe ist. Nehmen Sie etwa den Vater Robert Scholl, der wurde von der ältesten Schwester Inge Aicher-Scholl, die nach dem Krieg über Jahrzehnte die Erinnerung an die „Weiße Rose“ prägte, stets als Demokrat beschrieben – weil das opportun war. Dabei stand er der Demokratie in Wahrheit reserviert gegenüber. Noch 1960 lobte er in einem Brief die ständisch-monarchische Kaiserzeit als die Epoche, in der Deutschland eine „sehr gute Regierung“ gehabt habe – während er Demokratie für gefährlich hielt: Denn wenn die Masse bestimme, passierten eben Katastrophen wie Hitler. 

Ihr Buch „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose“ hat auch deshalb Beachtung gefunden, weil Sie bisher unbeachtete Dokumente ausgewertet haben. Wie das? Ist da nicht längst alles erforscht? 

Zoske: Genau davor hatten mich vorher alle gewarnt: „Da wurde jedes Blatt längst fünfmal umgedreht. Das bringt nichts.“ Falsch! Ich habe im archivierten Nachlaß Inge Scholls 141 handgeschriebene Seiten Hans Scholls entdeckt, die noch niemand ausgewertet hatte. 

Wie kann das sein? 

Zoske: Das haben mich Historiker auch gefragt: „Unmöglich, ich habe doch selbst alles durchgesehen!“, meinten sie. „Auch die Handschriften Scholls in Sütterlin?“ „Äh, nein ...“ Nun muß man wissen, daß Inge Scholl alles, was sie für wichtig hielt, später transkribiert hat. Möglicherweise hielten andere Forscher deshalb Nicht-Transkribiertes für irrelevant. Motto: Sonst wäre es ja übertragen. 

Vielleicht ist es ja irrelevant?

Zoske: Im Gegenteil! Aber ich kann das verstehen, denn Hans’ Handschrift zu entziffern ist nicht leicht, und man muß erst mal lernen, Sütterlin zu lesen. 

Was verraten die 141 Seiten, was bisher unbekannt war?

Zoske: Es handelt sich um Briefe, Gedichte und Geschichten aus Hans’ Feder, vor allem aus der Zeit 1937 bis 1938, als er wegen „bündischer Umtriebe“ und wegen Verstoßes gegen Paragraph 175, also Homosexualität, vor Gericht stand. Bereits 1938 dankt er Gott in einem dieser Gedichte für das Geschenk des „lebendigen Christus“. Bisher hatte man geglaubt, seine Hinwendung zum Glauben – die Wandlung zum „Homo religiosus“, wie es in der Forschung heißt – habe sich erst 1942 durch die Begegnung mit den konservativ-katholischen Literaten Theodor Hecker und Carl Muth vollzogen. Scholl war aber schon lange vorher ein frommer Mensch. Das belegen seine frühen Texte.

Geben diese Auskunft über seine Motive? 

Zoske: Diese Gedichte öffnen wirklich ein Fenster zu Scholls Seele! Man muß wissen, daß er Offizier werden wollte. Nun, nach der Anklage wegen Homosexualität würde dies ein Traum bleiben. Er mußte sich neu orientieren, und er tat das mit Hilfe des christlichen Glaubens, den er vor allem von der Mutter, mitbekommen hatte.  

Hinwendung ob seiner Homosexualität ausgerechnet zur Religion?

Zoske: Ein berechtigter Einwand, sah doch etwa gerade seine pietistische Mutter diese als „Geißel“. Doch als ihr durch die Anklage Hans’ Gefühle bekannt wurden, hielt sie zu ihm. Natürlich sah auch Hans den Widerspruch, was zum Ausdruck kommt, wenn er schreibt, er wolle sich von der „ekelhaften Sache reinwaschen“. Andererseits gab es für ihn aber auch eine Vereinbarkeit von Religion und Homosexualität, die darin bestand, daß er, wie er bei seiner Vernehmung sagte, diese „aus Liebe“, ja sogar aus „großer, aus übersteigerter Liebe“ zu seinem Freund, mit dem er eineinhalb Jahre eine Beziehung hatte, gelebt habe. Hans hatte einen empfindsamen Zugang zur Religion, er war jemand, der alleine mit einem Rucksack in die Einsamkeit der Schwäbischen Alb aufbrach, um dort in der Natur Gott und sich zu finden. 

Also war er Pantheist, kein Christ? 

Zoske: Er war Christ. So findet sich unter seinen Geschichten etwa eine namens „Das Paradies“, das er wie einen schwäbischen Obstgarten schildert, in dem man Gott unmittelbar wie einem „Armen der Landstraße“ begegnet. Das sind erkennbar christliche, ja protestantische Vorstellungen. Das wird auch deutlich, wenn er schreibt: „O Kreuz, du bleibst noch lange das Licht der Erde!“ Oder als er als Feldwebel in Rußland Zeuge des Elends im Feldlazarett wird und notiert, man wolle sich ob des Leids den Schädel einrennen, dann aber korrigiert: Weil Christus gelebt habe und gestorben sei, mache er das nicht. 

War dies ein Motiv für seinen Widerstand?  

Zoske: Liest man die von ihm verfaßten Flugblätter deutet er den Kampf gegen Hitler metaphysisch, als Ringen von Gut und Böse, und er fordert die Christen auf, endlich aufzuwachen. Sich selbst sah er als Werkzeug, als Streiter Gottes. An der Ostfront bittet er in seinem Tagebuch um einen göttlichen Zornwind: „Wann fegt ein Sturm endlich all diese Gottlosen hinweg, die einem Dämon dienen?“ Er hoffte auf einen himmlischen Orkan. Als dieser aber ausblieb, erkennt er die Notwendigkeit, selbst zu handeln. 

Dennoch nennt Ihr Buch andere Beweggründe als die bisher genannten Motive für seinen Widerstand.

Zoske: Man muß wissen, daß Hans und Sophie zunächst begeisterte Nationalsozialisten waren. Rasch stieg Hans in der HJ auf: Er war Führer erst von fünf, dann fünfzehn, fünfzig und schließlich von 150 Hitlerjungen. Ja, er tat sich so sehr hervor, daß er zu einem von nur drei Fahnenträgern der HJ Ulm auserkoren wurde, um 1935 zum Reichsparteitag nach Nürnberg zu fahren und dort seine Begeisterung für den neuen NS-Staat kundzutun. Keineswegs aber hat dieses Erlebnis, wie Schwester Inge später behauptete, bei ihm zur Umkehr geführt. Vielmehr war der Grund, warum er persönlich in Widerspruch zum Nationalsozialismus geriet, zum einen seine homo- oder bisexuelle Orientierung, als ruchbar wurde, daß er eine Beziehung zu einem Jungen aus seiner Gruppe hatte. Daß dieser Grund lange wenig beachtet blieb, liegt daran, daß, wie gesagt, Inge ihre Geschwister nach dem Krieg als vorbildhaft darstellen wollte und Homosexualität damals das Bild getrübt hätte. Statt dessen stellte sie ganz auf den anderen Grund ab, nämlich auf die Ablehnung der HJ gegenüber Hans’ bündischen Vorstellungen, die er aus der „dj1.11“, der Deutschen autonomen Jungenschaft, mitbrachte. Deren Ideal war, Elite zu sein, nicht Masse. Das faszinierte Scholl, brachte ihn aber in Widerspruch zu dem, wofür die HJ stand, die alle erreichen wollte und den Verzicht der Elite-Idee von ihm verlangte. 

Also war es das „Demokratische“, womit er nicht zurechtkam?

Zoske: Wenn Sie das Egalitäre meinen, dann in gewisser Weise ja. Denn wie Stauffenberg war Hans nationalliberal und von Stefan Georges Werk geprägt. Er wollte dichten wie dieser und denken wie Nietzsche. Auf keinen Fall aber zur Masse gehören, sondern im Sinne des letzteren ein „neuer Mensch“ sein. Auch wünschte er sich, Offizier zu werden, weil er befehlen, keinesfalls gehorchen wollte. 

Wie paßt das zur Inanspruchnahme der Geschwister als Vorbilddemokraten?

Zoske: Ursprünglich gar nicht. Wobei nicht klar ist, was Hans sich politisch vorgestellt hat. Es gibt eine Vermutung aufgrund eines Buches in seinem Besitz über Staatslehre, in dem er 1942 diverse Stellen markierte, wonach er wohl mit einer an einer starken Führerpersönlichkeit orientierten demokratischen Staatsform geliebäugelt hat. Aussagekräftiger ist, was Alexander Schmorell, den Hans wie einen Seelenverwandten schilderte, bei der Gestapo zu Protokoll gab, wonach er, Schmorell, der Halbrusse war, sich ein stark am Zarismus orientiertes System wünschte – allerdings mit einem väterlichen, fürsorglichen Zaren. Vorstellungen also, die von unserer Demokratie doch sehr weit entfernt sind. Wirklich nachzuweisen ist ein Demokratie-Gedanke bei der „Weißen Rose“ eigentlich nur zum Schluß, eigentlich erst im vorletzten Flugblatt vom Januar 1943 – also erst wenige Wochen vor ihrer Verhaftung am 18. Februar 1943. Da geht es dann um ein soziales, föderalistisch-demokratisches Europa, das Hans Scholls ursprüngliche patriotische Vorstellung von einem geistigen „Geheimen Deutschland“, ähnlich wie bei George und Stauffenberg, ergänzte und für das er sein Leben gab. Mit ihm starben am 22. Februar 1943 seine Schwester und Christoph Probst auf dem Schafott im Gefängnis München-Stadelheim. Hans, der Freiheitskämpfer, der immer „Flamme sein“ wollte, starb, wie es protokolliert ist, mit dem Ausruf: „Es lebe die Freiheit!“  






Dr. Robert M. Zoske, der Historiker promovierte 2014 an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg über den christlich motivierten Widerstand Hans Scholls („Sehnsucht nach dem Lichte. Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte“). Geboren wurde der ehemalige Pfarrer 1952 im Holsteinischen. Nach einer kaufmännischen Lehre studierte er Theologie und war von 1986 bis 2017 Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. 2018 veröffentlichte er bei C. H. Beck „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose“,  ein „anregendes und kluges Buch“ (SZ), das ein „neues faszinierendes Bild“ (Welt) des Widerstandskämpfers zeigt.

Foto: Sophie und Hans Scholl und Mitverschwörer im Film („Die Weiße Rose“, 1982): „Bisher unbekannte Quellen entdeckt“ 

 

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