© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

„Die Zeit der großen Kontroversen ist vorbei“
Der Berliner Historiker und Politikberater Paul Nolte trällert das Lob der Mitte
Dirk Glaser

Als der im Sommer 1986 von Jürgen Habermas gegen Ernst Nolte entfesselte „Historikerstreit“ hohe feuilletonistische Wellen schlägt, bezieht per FAZ-Leserbrief auch ein gewisser Paul Nolte Stellung. Er gibt sich als studentische Hilfskraft des Habermas-Unterstützers Hans-Ulrich Wehler, dem Haupt der damals tonangebenden „Bielefelder Schule“, zu erkennen, um sich mit peinlicher Beflissenheit von dem so berühmten wie „umstrittenen“ Berliner Historiker zu distanzieren, der „leider“ sein Namensvetter sei. Bei Zeiten krümmt sich, was ein Häkchen werden will.

Derart biographisch früh qualifiziert, empfahl sich der 2005 zum Geschichtsprofessor an der FU Berlin aufgerückte Paul Nolte, als die Redaktion von Forschung & Lehre 12/2017, dem Organ des Deutschen Hochschulverbandes, Ausschau hielt nach einem kompetenten Gesprächspartner. Es galt, die Frage zu erörtern, warum seit den 1990ern in den Geschichtswissenschaften die „Konsenskultur“ anstelle der „Streitkultur“ getreten sei. 

Der alterslos wirkende Mittfünfziger Nolte, am Friedrich-Meinecke-Institut blaß und schmallippig innerhalb seiner Studenten schon physiognomisch die personifizierte Unauffälligkeit, ist auch als Historiker weder Fisch noch Fleisch. Dementsprechend enttäuschte seine Bielefelder Habilitationsschrift über die „Ordnung der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert“ Rezensenten als „konturlos“. Nicht zuletzt, weil sie, das Versprechen ihres Titels nicht erfüllend, 1965 abbricht und so dem „Kulturbruch“ (Karlheinz Weißmann) von 1968 lieber ausweicht. 

Karsten Rudolph wollte deshalb in dem Werk, das ohnehin nicht den Wandel gesellschaftlicher Ordnungsideale „der Deutschen“, sondern lediglich den deutscher Soziologen darstellt, keine genuin historische Arbeit sehen. Vielmehr sei es ein ermüdend lang geratenes Plädoyer für den „Status quo der demokratisch verfaßten, pluralistischen Gesellschaft“ (Süddeutsche Zeitung , 29. Januar 2001). Weniger als Historiker, sondern eher als medial omnipräsenter Status-quo-Anwalt und einlullender Lobredner etablierter Sattheit wird Paul Nolte denn auch gern wahrgenommen. Dabei lag dieser Mann ohne Eigenschaften, der sich, ohne Risiken und Nebenwirkungen fürchten zu müssen, in jede öffentlich-rechtliche Schwatzrunde einfügt, bisher stets goldrichtig. Bestimmt er doch, nach Berlin berufen, als die prinzipienlose Angela Merkel die erste ihrer bleiernen Amtszeiten begann, seine politische Position, absichtslos humorig, als „neokonservativ, mit Sympathien für Schwarz-Grün“. 

Das bescherte ihm mit seiner als „gesellschaftskritische Analyse“ firmierenden Zeitgeistverstärkung dann manche Einladung ins Adenauer-Haus. Um dort der Merkel-Entourage zu bestätigen, daß sie Wahlen gewinne, wenn sie die CDU fleißig nach links rücke und die Bundesrepublik mit ihrer Volk und Nation abwickelnden Katastrophenpolitik in ein „mittiges Land“ mit „breiter liberaler Mainstreamkultur“ verwandle. Wie er nun stolz bekennt, in einer Zwischenbilanz seines Wirkens als Politikberater, für den die ihm als Typus so kongeniale, charismatische Annegret Kramp-Karrenbauer Merkels ideale Nachfolgerin wäre (Die Welt vom 29. Januar 2018). 

Wenn hiesige Historiker die eigene Geschichte entsorgen

Konsequent begrüßt Nolte deshalb auch in den Geschichtswissenschaften diesen geisttötenden, den Weg in den Abgrund planierenden „Zug in die Mitte, die Neigung zum Mainstream, den Trend zum Konsens, zum Großkoalitionären“. Und dekretiert großspurig: „Die Zeit der großen Kontroversen ist vorbei.“ Daß damit zugleich das von Fritz Fischer begonnene, von Noltes Lehrer Wehler kräftig geförderte linksliberale Projekt der „Selbstverdunklung der deutschen Geschichte“ (Gerhard Ritter) als abgeschlossen zu betrachten ist, versteht sich von selbst. Nach den letzten „Kontroversen“, die dazu noch nötig gewesen seien, der Debatte über Daniel J. Goldhagens steile These vom genetisch fixierten deutschen Judenhaß sowie dem Streit um die Wehrmachtsausstellung, hätten die Deutschen nunmehr den Krieg gegen Stalins Sowjetunion endlich als „Vernichtungskrieg“ sowie den „Mythos von der ‘sauberen’ Wehrmacht‘ als solchen akzeptiert“.

Was nach dieser Entsorgung der eigenen Geschichte für deutsche Historiker zu tun übrigbleibt, ist aus Noltes Sicht nicht mehr viel. Nur ein paar methodologische Scharmützel um Sozialgeschichte versus Politikgeschichte, cultural und spatial turn, die längst ausgefochten sind, haben die verlorene „Lust wider den Stachel zu löcken“ und die schrumpfende „Politisierung“ des Faches noch begleitet. Was nicht nur erinnerungspolitisch kein Schade sei. Denn gerade eine Großkontroverse wie der „Historikerstreit“ sei nicht „epistemisch kreativ“ gewesen, weil, wie der einstige Leserbriefschreiber Nolte sich kontrafaktisch erinnert, Ernst Noltes These zum „kausalen Nexus“ zwischen Gulag und Auschwitz keine Innovationen wie etwa die „vergleichende Genozidforschung“ ausgelöst habe. Die kamen „erst später“. 

Solche unbequemen Kontroversen, die dem von nationaler Kultur und Geschichte abgelösten Integrationsmanagement einer „vielfältigen Einwanderungsgesellschaft“ nichts mehr nutzen, habe die Zunft jetzt glücklich hinter sich gelassen. Und sie eingetauscht für eine, durch Noltes rosarote Brille gesehen, „faszinierende Vielfalt und Kreativität“. Ob sich hinter dieser vermeintlichen „Vielfalt der Positionen“ nicht letztlich ein so konformistischer wie geschichtspolitisch entbehrlicher Spezialismus versteckt, beginnt aber selbst Nolte zu ahnen, wenn er über das heutige beziehungslose Nebeneinander in der Geschichtswissenschaft klagt, dem die letzten „Stachel der Kritik“ absterben.